Die Blutgabe - Roman
seine Familie war es gegangen. Wenn auch kein bisschen ums Feiern.
Es wurde wirklich Zeit, dass er seinen eigenen Weg einschlug, dachte Kris. Seinen eigenen Zielen folgte. Heute Nacht noch würde er damit anfangen und dann immer weitergehen, ohne nach rechts und links zu schauen – oder gar zurück. Sollte Céleste verzweifelt strampeln und sich an ihm festklammern, wenn sie das wollte. Kris war alt genug, um sich auch mit einem Gewicht am Hals aufrecht zu halten. Als Erstes würde er in der Stadt einen Streuner für Blue jagen – auch ohne die Unterstützung der Jäger, ganz gleich, wie viel Zeit und Kraft es ihn kostete. Blue brauchte das Blut. Kris ahnte, dass sie der Schlüssel zu Reds Vertrauen war. Dennwenn es eins gab, das Red noch mehr wollte als Céleste – dann war es ein Wiedersehen mit Blue March 35.11. Doch davon ahnte die Vampirin nichts. Ein Lächeln erschien auf Kris’ Gesicht, als er daran dachte. Céleste glaubte also, etwas zu haben, das Dr. Edwards ihm nicht bieten konnte? Nicht ganz. Denn Kris hatte etwas, das
sie
Red nicht bieten konnte. Und das machte ihre ganzen Berechnungen hinfällig. Egal, wie sehr sie sich abmühte, diesmal würde seine Schwester verlieren. So lange Kris Blue als ultimativen Trumpf ausspielen konnte, war Céleste vollkommen machtlos. Am Morgen schon würde er zu Red zurückkehren – und damit beginnen, ihn für sich zu gewinnen.
Kapitel Fünf
Forschungsstation White Chapel, Kenneth, Missouri
Das Licht der Neonlampe drang mit spitzen Strahlen durch die trübrote Flüssigkeit in dem Probenbehälter. Cedric kniff die Augen zusammen und betrachtete die roten und weißen Blutkörperchen, die mit den winzigen Enzymen tanzten, als er das Glasröhrchen leicht schüttelte. Mit etwas Konzentrationsaufwand hätte er auch die gefalteten und geschraubten Aminosäureketten sehen, sie mit der Kraft seiner Gedanken hin- und herschieben und neu anordnen können. Oder, mit noch etwas mehr Anstrengung, sogar die einzelnen Basenpaare der DNA-Stränge in ihrer Sequenz verändern.
Als er seine Gabe noch erforschte und entwickelte – damals, als die aufstrebende Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts begann, die Geheimnisse der Molekularbiologie und der Biochemie zu entdecken –, hatte Cedric sich mit solchen Spielereien oft die Zeit vertrieben. Aufregend war es gewesen, konnte er doch endlich die wahre Natur seiner Fähigkeiten verstehen und sie somit weitaus effizienter nutzen. Warum er die Gedanken anderer zu lesen und zu lenken vermochte, ebenso wie es ihm möglich war, Gefühle und natürliche Triebe in Menschen und Vampiren hervorzurufen oder zu dämmen, warum er einen Körper lähmen oder heilen und Pflanzen zum Blühen oder Welken bringen konnte – all das geschah über die Manipulation zellulärer Vorgänge mit Hilfe der Organischen Manipulation. Jener Blutgabe, die zu Rechtnicht nur als die seltenste, sondern auch als die mächtigste angesehen wurde. Ein unendliches Spielfeld hatte sich damals vor Cedric aufgetan, das es zu erforschen galt und seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz reizte. Aber das war lange her. Heute war es wie mit so vielen anderen Dingen, die Cedric früher Freude gemacht hatten: Ihre schiere Sinnlosigkeit frustrierte ihn so sehr, dass er inzwischen fast gänzlich davon absah.
Mit einer Ausnahme.
Sids Blut, durch gezielte Strahlung verändert, faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Bis zu diesem Tag verstand Cedric noch immer nicht, was genau er da eigentlich geschaffen hatte. Die Elastizität der Moleküle, die Instabilität der atomaren Bindungen, die jeglichen biochemischen Gesetzmäßigkeiten zu spotten schienen – das wahre Geheimnis ihrer Beschaffenheit war ihm noch immer unbegreiflich, da es die Erwartungen selbst seiner kühnsten Berechnungen noch bei weitem übertraf. Instabile Materie hatte er es genannt, in Ermangelung eines treffenderen Begriffs. Aber das beschrieb nur einen winzigen Teil des eigentlichen Phänomens, das Sids Körper geworden war. Aus diesem Tropfen Blut in seiner Hand hätte Cedric einen Kieselstein ebenso wie einen Schluck Wein oder einen Hauch frischer Luft zusammensetzen können – für eine Weile zumindest. Keiner dieser Zustände würde von langer Dauer sein. Denn so einfach es war, die Atome zu jedem beliebigen Stoff zu verknüpfen, so viel Energie kostete es auch, sie über längere Zeit in dieser Form zu halten.
Cedric warf einen Blick zu Sid hinüber, der auf einer Liege an der Wand des kleinen Privatlabors
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