Die blutige Sonne
reisen; sie war in diesen Bergen schon zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter unterwegs gewesen. Aber allmählich gingen ihr die Vorräte aus. Glücklicherweise war der Gastwirt ein alter Bekannter von ihr; sie hatte nur wenig Geld dabei, weil die Reise sich so unerwartet in die Länge gezogen hatte. Doch der alte Jorik würde ihr ein Bett für die Nacht und ihr und ihrem Pferd zu essen geben und sich darauf verlassen, daß sie ihm die Bezahlung schickte. Er wußte ja, falls sie es nicht tat oder nicht konnte, würde ihr Gildenhaus der Ehre der Gilde wegen die Rechnung begleichen.
Der Mann, der ihr Pferd in den Stall führte, war ihr auch seit vielen Jahren bekannt. Er machte ein finsteres Gesicht, als sie abstieg. »Ich weiß wirklich nicht, wo wir Eure Stute einstellen sollen, mestra , mit all den fremden Pferden hier … was meint Ihr, wird sie sich eine Box mit einem anderen Pferd teilen, ohne zu treten? Oder soll ich sie dahinten lose anbinden?« Kindra bemerkte, daß der Stall gedrängt voll mit Pferden war, zwei Dutzend oder mehr. Statt nach dem Gasthof eines einsamen Dorfes sah es hier wie in Neskaya am Markttag aus!
»Habt Ihr unterwegs irgendwelche Reiter getroffen, mestra? «
»Nein, keinen.« Kindra zog ein wenig die Stirn kraus. »Alle Pferde in den Kilghardbergen scheinen sich hier in eurem Stall zu befinden. Was ist los, ein königlicher Besuch? Was hast du eigentlich? Du siehst dauernd über die Schulter, als stände da dein Herr mit einem Stock, um dich zu schlagen. Und wo ist der alte Jorik? Warum ist er nicht hier und begrüßt seine Gäste?«
»Nun, mestra , der alte Jorik ist tot«, antwortete der Alte, »und Dame Janella versucht, mit ihren kleinen Töchtern Annelys und Marga den Gasthof allein weiterzuführen.«
»Tot? Die Götter schützen uns«, sagte Kindra. »Was ist geschehen?«
»Es waren diese Räuber, mestra , Narbengesichts Bande. Sie kamen her und stachen Jorik nieder, mit seiner Schürze an«, berichtete der alte Stallknecht. »Stellten die Wirtschaft auf den Kopf, zerbrachen alle Bierkrüge, und als das Mannsvolk sie mit Mistgabeln hinaustrieb, schworen sie, sie würden zurückkehren und die Stadt in Brand stecken. Deshalb ließen Dame Janella und die Ältesten die Mütze herumgehen und sammelten Kupfer, um Brydar von Fen Hills und alle seine Männer anzuheuern, damit sie uns verteidigen, wenn die Räuber wiederkommen. Und seitdem sind Brydars Männer hier, mestra , streiten und trinken und haben ein Auge auf die Frauen. Die Leute in der Stadt sagen schon, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit! Aber geht hinein, geht nur hinein, mestra , Janella wird Euch willkommen heißen.«
Die dicke Janella sah blasser und dünner aus, als Kindra sie je gesehen hatte. Sie begrüßte Kindra mit ungewöhnlicher Freundlichkeit. Unter normalen Umständen war sie kalt gegen Kindra, wie es sich für eine respektable Ehefrau in Anwesenheit eines Mitglieds der Amazonengilde schickte. Jetzt, vermutete Kindra, lernte sie, daß eine Gasthofbesitzerin es sich nicht leisten konnte, eine Besucherin vor den Kopf zu stoßen. Auch Jorik hatte nichts für die Freien Amazonen übrig gehabt, aber er wußte aus Erfahrung, daß sie ruhige Gäste waren, die sich für sich hielten, keinen Ärger machten, sich nicht betranken, weder Barschemel noch Bierkrüge zerbrachen und ihre Rechnung prompt bezahlten. Der Ruf eines Gastes , dachte Kindra mit trockenem Humor, verändert die Farbe seines Geldes nicht .
»Habt Ihr schon gehört, gute mestra? Diese schlechten Männer, Narbengesichts Kerle, sie haben meinen guten Mann niedergestochen, und das für nichts – nur weil er mit einem Bierkrug nach einem warf, der Hand an mein kleines Mädchen gelegt hatte, und Annelys ist noch keine fünfzehn! Ungeheuer!«
»Und sie töteten ihn? Empörend!« murmelte Kindra, aber ihr Mitleid galt dem Mädchen. Ihr ganzes Leben lang mußte die kleine Annelys sich daran erinnern, daß ihr Vater gestorben war, als er sie verteidigte, weil sie sich nicht selbst verteidigen konnte. Wie alle Frauen der Gilde hatte Kindra geschworen, sich selbst zu verteidigen und niemals einen Mann um Schutz anzugehen. Sie war schon ihr halbes Leben lang Mitglied der Gilde. Ihr kam es entsetzlich vor, daß ein Mann hatte sterben müssen, um ein Mädchen vor einer Belästigung zu bewahren, die sie selbst hätte abwehren können müssen.
»Ach, Ihr wißt nicht, wie das ist, mestra , wenn man allein ist, ohne den guten Mann. Bei dem
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