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Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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Kerwin überkam kurz und schmerzlich ein Gefühl des déjà vu.
    Etwas wie das habe ich schon einmal gesehen, diese Geste … aber wo? Wann?
    Die Frau sah sich die Matrix kurz an, und der Mann blickte ihr dabei über die Schulter. Dann fragte der Mann mit scharfer Feindseligkeit: »Woher haben Sie das? Haben Sie es gestohlen?«
    Kerwin wußte ganz genau, daß die Anschuldigung nicht ganz das Gewicht hatte, das man ihr in der Terranischen Zone hätte beilegen müssen. Trotzdem machte sie ihn wütend. Er antwortete: »Nein, verdammt noch mal! Ich habe das Ding, seit ich mich erinnern kann. Können Sie mir sagen, was es ist und woher es stammt?«
    Sie tauschten Blicke. Dann zuckte die Frau die Schultern und setzte sich an ein kleines Pult, die Matrix in der Hand. Sie untersuchte sie sorgfältig mit einem Vergrößerungsglas. Ihr Gesicht war nachdenklich und verschlossen. Vor dem Pult war eine schwere Glasplatte, dunkel, undurchsichtig, und kleine Lichter glitzerten tief im Inneren des Glases. Die Frau machte wieder eine dieser bekannt-unbekannten Gesten, und die Lichter begannen mit hypnotischer Wirkung zu flackern. Kerwin sah zu, immer noch im Bann des déjà vu . Er dachte: Das habe ich schon einmal gesehen.
    Nein. Es ist eine Illusion, es hat was damit zu tun, daß die eine Seite des menschlichen Gehirns eine Sache um einen Sekundenbruchteil früher aufnimmt als die andere Seite, und dann hat man den Eindruck, man erinnere sich, das gesehen zu haben …
    Die Frau sagte mit dem Rücken zu Kerwin: »Sie ist nicht auf dem Hauptüberwachungsschirm.«
    Der Mann beugte sich über sie, wickelte seine Hand in ein Stück des isolierenden Stoffs und berührte den Kristall. Dann sah er die Frau überrascht an. »Glaubst du, er weiß, was er da hat?«
    »Ausgeschlossen«, erwiderte die Frau. »Er ist ein Außenweltler; wie sollte er es wissen?«
    »Ist er ein Spion, der uns aushorchen soll?«
    »Nein, er ist unwissend, das spüre ich. Aber wir können uns das Risiko nicht leisten. Zu viele sind gestorben, die nur von dem Schatten des Verbotenen Turms berührt wurden. Sieh zu, daß du ihn los wirst.«
    Ein bißchen verärgert fragte Kerwin sich, ob sie weiterhin in seiner Gegenwart über ihn sprechen würden. Dann wurde ihm mit einem Schock klar, daß sie nicht den Dialekt von Thendara sprechen und nicht einmal die reine Casta der Berge. Sie bedienten sich jener Sprache, die er irgendwie erfaßte, ohne eine einzige Silbe bewußt zu verstehen.
    Die Frau hob den Kopf und sagte zu dem Mann: »Gib ihm eine Chance. Vielleicht ist er tatsächlich ganz und gar unwissend, und er könnte in Gefahr sein.« Dann richtete sie sich in der Sprache des Raumhafens an Kerwin: »Können Sie mir irgend etwas darüber erzählen, wie Sie an diesen Kristall gekommen sind?«
    Kerwin antwortete langsam: »Ich glaube, daß er meiner Mutter gehört hat. Ich weiß nicht, wer sie war.« Dann, zögernd, sich bewußt, daß es ein wesentlicher Hinweis war, wiederholte er die Worte, die er in der Nacht, als er in der Altstadt niedergeschlagen wurde, gehört hatte.
    »Sag dem Sohn des Barbaren, er soll nie mehr auf die Ebenen von Arilinn kommen. Die Goldene Glocke ist gerächt …«
    Die Frau erschauerte plötzlich. Ihre tadellose Haltung splitterte und riß. Hastig stand sie auf, und der Mann reichte Kerwin den Kristall zurück, als seien ihre Bewegungen irgendwie synchronisiert.
    »Es steht uns nicht zu, uns in die Angelegenheiten der Vai Leroni einzumischen«, sagte die Frau mit ausdrucksloser Stimme. »Wir können Ihnen nichts sagen.«
    Kerwin drängte: »Aber … aber Sie wissen etwas … Sie können mich doch nicht …«
    Der Mann schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war leer, es ließ sich nichts daraus ablesen. Warum habe ich das Gefühl, ich müßte erkennen, was er denkt? fragte sich Kerwin.
    »Gehen Sie, Terranan . Wir wissen nichts.«
    »Was sind die Vai Leroni? Was …«
    Aber die beiden Gesichter, sich in ihrer Zurückhaltung und Arroganz so ähnlich, waren verschlossen und unbewegt – und hinter der Unbewegtheit verängstigt, das sah Kerwin.
    »Das geht uns nichts an.«
    Kerwin meinte, vor Enttäuschung explodieren zu müssen. Er streckte die Hand in einer vergeblich flehenden Geste aus. Der Mann trat zurück, um eine Berührung zu vermeiden, und die Frau wich ihm zimperlich aus.
    »Aber, mein Gott, dabei können Sie es nicht belassen. Wenn Sie etwas wissen – dann müssen Sie es mir sagen –«
    Das Gesicht der Frau wurde ein bißchen weicher.

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