Die Blutmafia
gebracht.«
»Danke.«
Novotny nickte wissend, nahm trotzdem das Kuvert und öffnete. Fotos fielen heraus. Novotny blätterte sie durch. Aus den Augenwinkeln erkannte Rio eine Männerleiche auf einer Treppe. Novotny schob ihm eines der Bilder zu: »Da, bei dem Foto wird sich dir nicht gleich der Magen umdrehen. Es ist das Kind.«
Es war das Bild eines Mädchens. Leichtes, lockiges Haar über einer runden Kinderstirn. Der Kopf ruhte auf einem kleinen, nackten Arm, als schlafe es … Die Augen waren halb geöffnet, die Lider teilten die Pupille. Es war ein friedlicher Anblick. Doch über dem Gesicht lag der endgültige Hauch des Todes.
Rio Martin zog das Notizbuch aus der Tasche. »Gib mir die Adresse dieses Kindermädchens, ja?«
»Gut. Aber ich fürchte, da wirst du Schlange stehen. Bei der sind doch längst deine Herren Kollegen …«
Er mußte nicht Schlange stehen.
Der Name ›Kornhaus‹ stand auf einer blaugestrichenen Tür am Eingang eines zweistöckigen, kleinen Rückgebäudes in der Sommerstraße. Stille. Grüngestrichene Abfalltonnen. Ein halbverdorrter Apfelbaum und ein leerer Fahrradständer. Auf beiden Seiten der Betonplatten, die zu der blauen Tür führten, kümmerten Blumenrabatten vor sich hin.
Rio Martin klingelte. Nichts. Er klingelte wieder. Über ihm öffnete sich ein Fenster. Für eine Sekunde erschien das Gesicht einer alten Frau, dann knallte das Fenster zu.
Sieh dir das an! dachte Rio. Und du hast dir eingebildet, dieses elende Vertretergefühl nie mehr erleben zu müssen …
Und er klingelte wieder.
Nun waren Schritte zu hören. Die Tür öffnete sich, wurde jedoch sofort von einer Sperrkette festgehalten. »Hören Sie mal«, sagte die Stimme der alten Frau. »Sie sind jetzt der siebte oder der achte, was weiß ich. Aber wenn Sie nicht sofort wieder gehen, rufe ich die Polizei.«
»Von der komme ich.« Da es eigentlich ziemlich gleichgültig war, welche Lügen er auftischte, änderte er die Richtung: »Aber ich wollte mich dort nur erkundigen. Mein Name ist Martin. Ich bin ein alter Freund von Frau Reissner. Es tut mir aufrichtig leid, Sie zu stören … Aber ich wollte Frau Reissner heute morgen besuchen, und dann … nun, Sie wissen doch …«
Die Sperrkette fiel, die Tür ging auf.
Rio betrat einen Vorraum und stand vor einer etwa siebzigjährigen Frau. Sie hatte das graue Haar hochgesteckt, trug ein braunes, langes Hauskleid und sah ihn durch ihre Hornbrille ruhig und forschend an.
»Sie wollen Iris sprechen, nicht wahr?«
Er nickte.
»Ich fürchte, das geht nicht. Es ist einfach zu schrecklich. So schrecklich ist es, daß man es gar nicht denken kann … Und Iris ist in einem Zustand …« Sie unterbrach sich. »Ich hoffe, Sie schwindeln mich nicht an. Sie müssen schon entschuldigen, aber wenn Sie wüßten, was heute morgen hier los war … Man kann sich das gar nicht vorstellen. Ich kenne diese Reporter ja nur aus dem Fernsehen, aber jetzt, jetzt hab' ich sie erlebt.«
Er versuchte sein Lächeln beizubehalten. Er sah die Kinderbilder, die an den Wänden hingen, er sah auch eine kleine Vitrine, voll mit bunt angemalten Tonfiguren – und dann wieder diese dunklen, verbitterten Augen.
»… die wollen nur ihre Arbeit tun, sagen sie. Kann man ja vielleicht einsehen. Ich habe selbst zwei Zeitungen abonniert. Aber wie die sich dabei aufführen – wie die Schweine. Sogar Geld haben sie mir geboten, nur um mit Iris sprechen zu können. Da sind drei Menschen gestorben, darunter ein Kind, ein unschuldiges Kind, die kleine Elfi, und die ist oft hier gewesen, wir haben miteinander gespielt – und da stürmen diese Aasgeier herein mit ihren Ausweisen, ihren Brieftaschen, ihrer Frechheit.«
Er nickte und fühlte sich mies. Solche Situationen hatte er oft genug hinter sich gebracht, stets mit Erfolg. Und jetzt? Du taugst nicht mehr fürs Geschäft, dachte er. Nicht nur, daß du aus dem Job herausgewachsen bist – viel schlimmer: Du beherrscht ihn nicht mehr. Das ist es!
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Vor allem, wenn Sie Frau Reissner gekannt haben. Aber ich kann Sie nicht hereinbitten. Es würde auch gar nichts bringen. Der Arzt hat Iris ein Beruhigungsmittel gegeben. Der Schock. Sie können sich das doch vorstellen, oder? Sie ist so sensibel wie ihre Mutter. Wissen Sie, ich bin eine Freundin von Iris' Mutter. Wir haben früher zusammen an derselben Schule unterrichtet. Deshalb habe ich sie auch aufgenommen, obwohl ich es vorzog, allein zu leben. Aber jetzt, jetzt
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