Die Blutmafia
Es ist die verdammte Realität. Sag ihm, er soll in die Redaktion kommen. Sag ihm, daß Möller die Story nie in den Griff kriegt … Sag ihm, Himmelherrgott noch mal, er soll dran denken, um was es geht. Wir müssen dieses Schwein von Engel zur Strecke bringen. Rio hat schließlich damit angefangen. Er weiß es also am besten, und er schreibt am besten. Er ist der einzige, der die Sache weitertreiben kann. Sag ihm das! Hörst du?«
»Ich will's versuchen.«
Sie klappte die Schere zu und legte den Hörer auf …
Lange Zeit saß sie ganz still. Vor dem Fenster bogen sich die Birkenzweige im Wind. Ein Vogel versuchte zu landen, ließ es dann aber sein und flog weiter.
Rio!
Rio … Rio … Wir kommen da durch. Wir müssen einfach. Glaub mir doch. Und vielleicht ist es gar nicht so schwierig. Du mußt nur wieder gehen lernen, ganz aufrecht, Rio! Und ich werde Dir helfen. Ich weiß ja auch, wie es zu machen ist. – Rio, wir brauchen ein Kind …
Zehn Uhr morgens. Um diese Zeit gab's im ›Café Lola‹ kaum Gäste. Die goldenen Messingstangen, die die Tische und die Bänke voneinander trennten, funkelten im Halbdunkel. An der halbrunden Bar strich sich die Kellnerin gelangweilt ihren Minirock zurecht.
Rio legte die ›Süddeutsche‹ zurück auf den Tisch. Das Blutbad in Nürnberg wurde der Russen-Mafia zugeschrieben, und die Bundesregierung wollte mit neuem Schwung und neuem Einfallsreichtum der Massenarbeitslosigkeit zu Leibe rücken … Interessierte ihn nicht. Gab es noch etwas, das ihn interessierte? Kaum. Er hob die Hand, um die Bedienung heranzurufen, doch gleich darauf ließ er sie wieder sinken. Ein junger Mann stand vor ihm. Er hatte langes, fettiges Haar, dessen Strähnen sich auf breiten T-Shirt-Schultern kringelten. Das T-Shirt war auch nicht allzu sauber. Er trug Jeans und Turnschuhe, hatte einen kleinen Goldknopf im Ohr und ein halbes Lächeln auf dem Gesicht. Nein, er sah wirklich nicht vertrauenerweckend aus.
»Sie sind Herr Martin, nicht wahr?«
»Warum? Kennen wir uns?«
»Jetzt schon. Mein Name ist Bauer. Ich gehöre zu Herrn Novotnys Abteilung. Der Chef wartet draußen.«
»Und wo?«
Der Junge deutete mit dem Kinn zur Scheibe. Dieses Mal war es kein grauer BMW, sondern ein grüner Audi.
»Warum kommt er dann nicht rein?«
Rio bekam keine Antwort. Der sonderbare Junge, offensichtlich einer von Novotnys ›verdeckten‹ Fahndern, ging bereits dem Ausgang zu und verschwand draußen zwischen den Passanten.
Rio legte fünf Mark für seinen Tee auf den Tisch, ohne auf das Wechselgeld zu warten, und durchquerte das Lokal. Draußen am Bordstein hielt Novotny die Wagentür auf.
»Hallo, Rio!«
Rio setzte sich neben ihn. Novotny war zweimal bei ihm zu Hause aufgekreuzt, das letzte Mal war auch schon wieder drei Wochen her.
»Was soll das? Seit wann hast du was gegen ein Bier am Morgen?«
»Erstens mußte ich um fünf Blocks fahren, um einen Parkplatz zu finden, und zweitens habe ich sowieso keine Zeit. Aber ich möchte mit dir sprechen. Und das können wir ja auch im Auto, nicht?«
Er fuhr los, und dabei legte er die rechte Hand auf Rios Unterarm. »Rio! Ich möchte dir eine ganze Menge erklären.«
»Tu's nicht.«
»Eben«, sagte Novotny lakonisch.
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ich war bei dir zu Hause. Vera hat mir gesagt, daß du wahrscheinlich im ›Lola‹ die Zeitung liest.«
»Und warum warst du bei mir?«
»Das ist einmal eine ganz blöde Frage. Schließlich hat man manchmal Lust, einen alten Freund zu sehen. Und zweitens wollte ich mit dir sprechen. Dienstlich. Zufrieden?«
»Wie man's nimmt.«
Der Audi schlängelte sich durch den Verkehr. Sie erreichten die Königinstraße. Novotny ließ den Wagen ganz langsam rollen. Rio betrachtete die Studenten, die vor dem tierärztlichen Institut auf den Mauern saßen.
»Und wenn ich an deinem dienstlichen Gespräch kein Interesse hätte?«
Novotny warf ihm einen halben Blick zu: »Auch nicht, wenn ich dir erzähle, daß wir Engel verhört haben?«
»Auch dann nicht. Aber erzähl trotzdem …« Sein Herz machte sonderbare Dinge: Es setzte aus, hämmerte los, änderte den Rhythmus erneut zu einem langsamen, quälenden Schlag. Er drehte wieder den Kopf und blickte fast krampfhaft durchs Fenster auf die vorüberziehenden großen Gebäude.
»Was ist er für ein Typ?«
»Weiß nicht. Schwer zu sagen. In jedem Fall nicht der, den wir uns beide vorgestellt haben. Ellenlang. Sieht bedeutend jünger aus, als er ist.
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