Die böse Brut
drängte sich der Eindruck hoch, dass der Junge nichts anderes als ein Gefangener zwischen den beiden Erwachsenen war.
Sie konnte selbst nicht genau sagen, warum sie so dachte. Es war einfach so, und sie hatte zudem das Gefühl, als strömte ihr aus der Tiefe etwas entgegen, das ihr nicht gefiel.
Es war negativ...
Mit dem Jungen konnte es nichts zu tun haben. Eher mit den beiden Männern, die ihn begleiteten. Sie waren nicht allein, denn an einem auf der Straße und vor der Treppe parkenden Wagen hielten sich ebenfalls zwei dunkel gekleidete Männer auf, die wie Wächter neben den offenen Wagentüren standen und darauf warteten, dass die anderen einstiegen.
Carlotta überlegte, was sie unternehmen sollte. Sie hatte einfach den Wunsch, etwas zu tun. Da musste etwas unternommen werden. Die Männer waren alles, nur keine Freunde des Jungen, denn sie verhielten sich so, als wären sie seine Entführer.
Sie ließen die Treppe hinter sich. Erreichten den Wagen. Der Junge wurde losgelassen.
Carlotta flog noch tiefer.
Der Junge hätte jetzt eigentlich einsteigen müssen, aber er zögerte noch. Er blickte sich um. So wie er das tat, wirkte er wie jemand, der Abschied nehmen wollte.
Carlotta spürte seine Angst und Unsicherheit. Der Junge wollte nicht einsteigen, aber er würde es tun müssen, weil man ihn letztendlich dazu zwang.
Dann schaute er in die Höhe.
Er sah Carlotta.
Genau in diesem Augenblick griff sie ein, weil sie wusste, dass das Schicksal sie dazu bestimmt hatte...
***
Damiano traute seinen Augen nicht. Das Märchen bestand aus einem Vogel, der so unwahrscheinlich groß war und jetzt auf ihn herabstürzte, um die Krallen in ihn zu schlagen.
Es verstrich nicht mal eine Sekunde, bis er erkannte, dass es sich nicht um einen Vögel handelte. Es war ein Mensch, ein fliegender Mensch, und der hielt seine Arme ausgestreckt, um nach ihm zu greifen.
Damiano war starr vor Schreck. Aber nicht vor Entsetzen. Hinter den ausgestreckten Armen sah er das Gesicht eines Mädchens, und jetzt sah er die Gestalt als einen Engel an. Dazu gehörten auch die beiden Flügel, die sich über dem Rücken bewegten und dem Körper noch einen letzten Schwung gaben.
Ob seine vier Verfolger die Gestalt gesehen hatten, bekam er nicht mit. Das wollte er auch gar nicht wissen, denn seine eigenen Gedanken wurden abgerissen, als ihn zwei kräftige Hände packten und mit einem Ruck vom Boden in die Höhe zerrten.
Er schrie nicht einmal auf, auch wenn er überrascht war. Er hing wie ein Pendel nach unten. Die Hände hatten sich in seinen Achselhöhlen vergraben. Über sich hörte er das leichte Brausen, wenn sich die Flügel bewegten, und er bekam mit, dass sie immer mehr an Höhe gewannen und sich von den vier Verfolgern entfernten.
Erst jetzt hatten die Männer bemerkt, was da richtig passiert war. Sie schauten sich noch an, dann wurde ihnen klar, dass man ihnen die Beute entrissen hatte, und sie blickten in die Höhe.
Leise Schreie gellten dem Jungen entgegen. Er sah die hektischen Bewegungen der Aufpasser, und im nächsten Moment hielten sie plötzlich Waffen in den Händen.
Sie zielten, sie schossen!
Aber sie trafen nicht, denn die Retterin hatte bereits mit mächtigen Flügelschlägen an Höhe gewonnen und bereits den Kirchturm erreicht.
Damiano wusste nicht, ob sie noch schossen, denn sie waren seinen Blicken entglitten. Das Mädchen hielt ihn weiterhin fest und flog mit ihm auf die andere Seite eines Kirchturms, um sich den Blicken der Verfolger zu entziehen.
Der Junge begriff die Welt nicht mehr. Er erlebte ein Märchen. Ein Engel hatte ihn gerettet!
Sie flogen weg, schnell weg. Damiano spürte den Flugwind, der in seine Augen hineinbiss. Der Griff der beiden Hände veränderte sich. Er wurde jetzt so gepackt, das er bäuchlings unter dem Körper seiner jungen Retterin lag und zu Boden oder auf die Dächer der Häuser schauen konnte, die unter ihm hinweghuschten.
Er hörte auch die Stimme des Mädchens. »Jetzt bist du in Sicherheit. Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben...«
Damiano wusste nicht, ob sie Recht hatte. Er glaubte ihr zunächst, aber wie seine Zukunft aussah, das wusste er nicht. Allerdings wusste er, dass die andere Seite nicht aufgeben würde, dazu war er für sie einfach zu wichtig...
***
Es war mit fortschreitender Zeit doch kühler geworden. Dundee liegt am Wasser, und oft bildeten sich in der Nacht die entsprechend kühlen Winde, die auch die Stadt nicht verschonten.
Im Freien sitzend
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