Die braune Rose
geht um meine Stieftochter … ich werde Ihnen das eingehend erklären.«
*
Die Heimmutter Erna Selpach hatte den Tag wie alle Tage in den vergangenen vierzig Jahren begonnen: Sie hatte die Schlafsäle kontrolliert, bei der dicken Erika wie immer ein unordentlich gemachtes Bett festgestellt und wie seit drei Jahren das Bett wieder eingerissen und durcheinandergewühlt.
Nun war das Waisenhaus wieder im täglichen Rhythmus eingespielt. Erna Selpach erledigte ihre morgendliche Schreibarbeit. Ein Bericht an das Zentralhaus, eine Aufstellung des Wochenausgabe-Etats, Beantwortungen einiger Vormundschaftssachen, Sortierung des Posteinganges.
Als es klopfte, sah sie nicht auf, sondern sagte ihr »Ja?« Jemand trat ein und blieb an der Tür stehen. Erna Selpach, die mit dem Rücken zum Eingang saß, schrieb erst die angefangene Zeile zu Ende, ehe sie sich umdrehte.
»Was ist denn?« wollte sie fragen, aber das Wort blieb stecken und hemmte ihren Atem. Sie starrte mit aufgerissenem Mund auf Harriet.
»Guten Morgen, Mutter Erna«, sagte diese leise. Dann war es auch mit ihrer Haltung zu Ende, sie lehnte sich an die Tür und begann, laut zu weinen.
»Harriet«, stammelte Erna Selpach. »Mein Gott, Kind, wie siehst du denn aus? Wo kommst du denn her?« Sie sprang auf, umarmte Harriet und drückte den zitternden Körper an sich. »Was ist denn los? Wo ist denn deine Mutter? Was –« Sie hob das tränennasse Gesicht zu sich und sah in die flatternden Augen Harriets. »Bist du weggelaufen?«
Harriet nickte weinend.
»Wann?«
»In der Nacht. Per Anhalter.«
»Warum hast du das getan?« Erna Selpach zog Harriet ins Zimmer und preßte sie auf einen Stuhl. Sie senkte den Kopf und schlug beide Hände vor das Gesicht. »Was auch gewesen sein mag – ich weiß es noch nicht – aber man läuft nicht einfach weg. Ich werde sofort anrufen.«
»Nein!«
Es war ein fast greller Aufschrei. Er durchfuhr Erna Selpach, ihre schon zum Hörer ausgestreckte Hand zuckte zurück.
»Nicht anrufen!« schrie Harriet. »Ich will nicht wieder zurück! Nie! Ich will hierbleiben. Nur hier. Da draußen ist es schrecklich.«
»Deine Mutter wird dich suchen. Weißt du überhaupt, was du da getan hast?«
Harriet nickte. »Meine arme Mutter«, sagte sie leise. »Aber auch sie kann mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen … niemand kann mich weiß machen.« Sie schwankte im Sitzen, legte den Kopf auf den Tisch und weinte wieder.
Erna Selpach sah auf sie hinunter und rang die Hände. Es war ihre Pflicht, sofort Marianne Koeberle anzurufen, aber bevor sie es tat, wollte sie wissen, warum Harriet zurückgeflogen war in das Waisenhaus. Es mußte ein Erlebnis gewesen sein, daß ihr ganzes Wesen, ihre kleine, eroberte Welt zerstört hatte.
Erna Selpach versuchte es mit vorsichtigen, vortastenden Fragen. Harriet-Rose antwortete nicht darauf; sie weinte mit einem wimmernden Ton, wie ein ausgesetzter, junger Hund, in dem Heimweh und Angst sich vermischen. Schließlich führte sie Harriet in das Schlafzimmer, legte sie ins Bett, deckte sie zu und schloß hinter sich die Tür ab. Erst dann rief sie in Heidelberg an. Aber niemand meldete sich. Sie ließ immer wieder durchrufen, bis sie einsah, daß Marianne Koeberle nicht zu Hause sein mußte. Oder war etwas anderes Furchtbareres geschehen?
Erna Selpach ging in ihr Schlafzimmer zurück. Harriet schlief wieder, im Schlaf wild schluchzend. Sie hatte die Fäuste geballt, und über ihr braunes, schmales Gesicht zuckte es wie ein inneres Wetterleuchten.
*
Arnold Schumacher saß bleich hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm, in dem ledernen Besuchersessel, hockte Marianne, ein Bündel zitternder Angst.
»Das ist ja furchtbar«, sagte er immer wieder. »Das ist ja … Koeberle … wenn ich Ihnen helfen könnte. Was sagt denn die Polizei?«
»Sie ist jetzt selbst überzeugt, daß etwas geschehen sein muß. Sie hat die Fahndung aufgenommen. Heute abend soll in den Rundfunknachrichten und im Fernsehen Harriets Beschreibung durchgegeben werden.«
»Entsetzlich, an etwas zu denken, was …« Schumacher unterbrach sich, als er sah, wie Marianne noch mehr zusammensank. »Glauben Sie mir, Koeberle … mich trifft keine Schuld.«
»Ich weiß.«
»Auch Bert hat das nicht gewollt. Niemand weiß eigentlich, was er will. Die Verlobung mit Heidi kam uns ebenso überraschend wie Ihnen. Wir haben es erst gar nicht glauben wollen. Ich weiß nicht, was in Bert gefahren ist, aber er muß einen Grund haben, daß er plötzlich
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