Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Pfad gefunden, auf dem er sich ungehindert bewegen konnte. Urso, der gut hundert Schritt vor ihm war, schien es genauso zu gehen: Zunächst hatte Lorenzo ihn noch trampeln und unterdrückt fluchen gehört, aber mittlerweile bewegte der große Mann sich so leise, dass Lorenzo ihn mehr ahnte als vernahm. Der Lärm, den er noch verursachen mochte, ging im Rauschen des Regens unter. Für den nächsten Wachposten hundert Schritt hinter Lorenzo galt das Gleiche. Corto hatte einen dichten Wachring um das Lager ziehen lassen und darauf geachtet, dass die Männer außerhalb des dürftigen Feuerscheins waren. Die Zugpferde des Trosswagens waren nicht ausgeschirrt worden; die Reitpferde befanden sich abseits des Lagers ebenfalls im Dunkeln, nicht weniger bewacht als das Lager selbst.
Lorenzo hatte keine Vorstellung, wie weit sie das Dorf hinter sich gelassen hatten; die eintönige Gleichförmigkeit der Landschaft und der Nebel hatten ihm die Orientierung erschwert, und als der Regen eingesetzt und den späten Nachmittag in Dämmerung verwandelt hatte, war sie ihm völlig abhanden gekommen. Sie hatten sich auf Schleichwegen, Tierpfaden und dem Netz aus getrampelten Spuren, das Fallensteller, Bauern und Fischer auf ihren Wegen in den Boden gezogen hatten, vorwärtsbewegt. Jetzt befanden sie sich in einem lichten Wald aus Eschen und Birken, dessen Blätterdach hier und da die Regentropfen abhielt. Sie waren langsam vorangekommen, obwohl Corto beinahe ohne Rücksicht auf die Beladenen vorwärtsgedrängt hatte. So hatte es einige kleinere Tragödien gegeben, als erschöpfte Dörfler ihre wenige Habe plötzlich fallen und neben dem Weg zurückließen, um weiter mithalten zu können, und einige größere, als Menschen zusammensackten und sich weigerten, das Marschtempo weiter zu halten. Wer sich auf einem Pferd halten konnte, hatte die Erlaubnis erhalten, zu einem der Reiter aufzusteigen; Lorenzos Pferd hatte zeitweilig drei Menschen getragen. Der eine oder andere hatte noch Platz im Trosswagen gefunden, doch es war nicht ausgeblieben, dass manch einer mit hängendem Kopf im Gras sitzen blieb und in Nebel und Regen hinter der weiterhastenden Truppe zurückblieb. Viele drehten sich ständig in die Richtung um, aus der sie gekommen waren. Ihre Heimat war ebenso vom Nebel verschluckt wie die Nachbarn und Freunde, die nicht mehr hatten mithalten können.
Einmal war Schwester Immaculata zu nahe an den gefesselt neben dem Wagen marschierenden Georg Vogler gekommen, und plötzlich war sie zu Boden gestürzt und vor das Hinterrad gefallen, das sie überrollt hätte, wäre Verruca nicht gedankenschnell hinzugesprungen und hätte sie beiseitegezogen. Danach hatte sich Verruca auf Vogler gestürzt und, schneller als der Mann ihn abwehren konnte, auf ihn eingeschlagen, bis man Verruca von seinem Opfer herunterzog. Lorenzo hatte sich an seinen eigenen Wutanfall im Dorf erinnert gefühlt. Zu welchem schwarzen Loch musste ein Mann wie Georg Vogler sein Herz verkommen haben lassen, dass es ihn amüsierte, wie die Menschen auf ihn reagierten? Corto hatte Vogler, dessen Gesicht anzuschwellen begann, hochgezogen, ihn gemustert, dann hatte er ihm das Knie zwischen die Beine gerammt, dass das Lächeln auf dessen blutig geschlagenen Lippen erstarrte, hatte kurzerhand einem Dörfler die klapprige Trage abgenommen, deren Last neben den Weg gekippt und den sich stumm windenden Vogler auf der Trage festgebunden. Der Dörfler hatte sich nicht gewehrt. Erst Augenblicke später erkannte Lorenzo in ihm den Mann, dem er im Dorf geholfen hatte; wo die Frau mit dem zerbrochenen Verstand abgeblieben war, konnte er nicht feststellen. Vogler wurde von da an auf der Trage verschnürt hinter dem Trosswagen hergeschleift, und Schwester Radegundis musste sich um Verruca kümmern, bis dieser sich so weit beruhigt hatte, dass er nicht erneut auf den Gefesselten losging und ihn zu Tode trampelte. Schwester Immaculata war nach diesem Vorfall erschüttert und blicklos weitergestolpert, und Lorenzo hatte sich gefragt, wann es so weit sein würde, dass sie neben dem Weg saß und nicht mehr weiterging, doch am Abend war sie immer noch da.
Einmal hatte Fabio plötzlich angehalten, war mit starrem Gesicht abgestiegen und hatte das Kind, das er anfangs auf den Schultern getragen und später vor sich im Sattel in den Armen gehalten hatte, ins Gras gelegt. Das Kind hatte die Augen geöffnet und schaute an Fabio vorbei in das Nichts, in das seine Seele bereits gereist war. Fabio war
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