Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
locker verteilt neben dem Weg lag. Kiefern, junge Platanen, dünne Birken und die allfälligen Eschen bildeten mehrere dicht von Knöterich und Winden überwucherte Pflanzenknäuel, in deren Innerem jeweils ein halbes Dutzend Menschen Platz fand und halbwegs trocken saß. Alles, was sich zu Schüsseln umfunktionieren ließ – Helme, Lederkappen, in einem Fall ein Schuh –, wurde in den Regen nach draußen gestellt, um das Wasser aufzufangen. Es war nicht wirklich kalt, aber es reichte, um zu zittern und sich nur einen einzigen Komfort zu wünschen, nämlich den, die nassen Kleider ausziehen zu können. Überrascht sah Magdalena zu, wie die Menschen, mit denen zusammen sie Schutz gesucht hatte, genau das taten. So, als wäre es das Natürlichste, zogen Männer und Frauen ihre formlosen Kittel aus, wrangen das Wasser aus ihnen und warfen sie auf einen Haufen; und so, wie sie es irgendwie schafften, die Schamgrenze aufrechtzuerhalten und sich gegenseitig nicht zu sehen, obwohl sie auf Tuchfühlung aneinandergekauert saßen, so schaffte es Magdalena nicht, die halb nackten Körper nicht anzustarren. Sie waren alle sehnig und knochig, die Haut bleich und fleckig und gepuckert wie die von gerupften Gänsen in der Kühle; die Arme der Männer besaßen weniger Muskeln als vielmehr knotige Sehnen, und die Brüste der Frauen waren nicht viel mehr als schlaffe Hautsäcke, die auf deutlich sichtbaren Rippen baumelten. Sie massierten sich mit unbewussten Bewegungen über Körper und Gliedmaßen und hielten sich so warm, bis Magdalena es vor Verlegenheit und Kälte gleichermaßen nicht mehr aushielt und mit der gemurmelten Erklärung, nach den anderen Mitgliedern ihres verlorenen Haufens sehen zu wollen, hinaus ins Freie kroch. Der Regen schlug ihr ins Gesicht; sie fühlte den völlig durchnässten Stoff auf ihrer Haut nochmals abkühlen und erschauerte.
Draußen kam ihr zu Bewusstsein, dass es ein drittes Gefühl gab, das sie dort im Gebüsch gepeinigt hatte, und dass es eigentlich dieses Gefühl war, das sie am heftigsten dazu gedrängt hatte, den Unterschlupf zu verlassen – das Gefühl, nicht dazuzugehören, das sich in vielen Dingen manifestierte, aber vor allem in der Tatsache, dass die Dörfler ihre Halbnacktheit miteinander teilten, wogegen sie, Magdalena, in ihren klatschnassen Habit gehüllt, zwischen ihnen gesessen hatte wie eine zerschlissene Krähe, die sich auf einen Hühnerhof verirrt hatte und um die alle anderen Vögel einen weiten Bogen machten. Allein, allein, allein … die Jahre im Kloster hatten sie darin geübt, allein zu sein, ohne sie jemals an die Bitterkeit dieses Daseins zu gewöhnen. Der Falke unter den Tauben … ein guter Witz. Sie war so wenig ein Falke, wie die anderen Frauen sanfte Tauben gewesen waren. Alles, was sie gewesen war, war ein Jemand, war eine Hülle namens Schwester Magdalena Caterina, die die geflüsterten Unterhaltungen im Kapitelsaal zwar gehört, aber nie daran teilgenommen hatte, die die stumme Gestensprache im Refektorium zwar verstanden, aber nichts dagegen hatte unternehmen können, dass sie an ihr vorbeigeführt worden war. Nun war sie in der Welt draußen, unter den Menschen, und es war wieder genauso: Sie war kein Bestandteil des Lebens, sie war lediglich eine Beobachterin. Ihr besonderer Sinn ließ Gefühlsfetzen zu ihr dringen: die mühsam unterdrückte Panik einer Gruppe von Menschen auf der Flucht; Wut und Entsetzen über den Verlust ihrer Heimat; den winzigen warmen Hauch von Komfort, den sich ein Paar gab, das es bis hierher gemeinsam geschafft hatte und sich in der Kälte gegenseitig umarmte; eine verworrene Mischung aus Dankbarkeit, Unglauben und Misstrauen, die aus einem Geist stammte, der sprudelte und siedete wie ein Wasserkessel und der zu Enrico gehören musste; die stille Kampfbereitschaft, vermischt mit Angst, die die anderen Wölfe ausstrahlten, ein einfaches Gemüt, das im Strudeln all dieser Schwingungen in sich selbst ruhte wie ein Felsbrocken in einem Wildbach: Urso … Magdalenas Gabe hatte sie zu einer natürlichen Beobachterin des Lebens gemacht; ihr Charakter und ihre Erziehung ließen es nicht zu, dass sie die Distanz von der Beobachterin zur Teilnehmerin einfach überschritt. Gewiss, sie mischte sich ein, sie tröstete, stillte Schmerzen und gab Beistand oder diskutierte auf der leidenschaftlichen philosophischen Basis ihres Glaubens … Aber während Schwester Magdalena Caterina dies tat, blickte der Mensch, der Schwester Magdalena Caterina
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