Die Braut des Normannen
erklärte sie. »Er hat der Äbtissin ständig mit Fragen, wann er endlich aufstehen könnte, in den Ohren gelegen. Ich habe mit ihm Schach gespielt, um sie vor seinen schrecklichen Launen zu bewahren, nicht, um ihn zu unterhalten.«
»Baron Hugh lächelt immer, wenn er von Euch spricht, aber wenn die Sprache auf Justin kommt, wird er zornig. Er hat erzählt, daß Euer Bruder das Tablett mit dem Essen auf Euch geschleudert hat, und als Baron Royce davon hörte, wurde er fuchsteufelswild. Er ist schrecklich und jagt einem richtig Angst ein, wenn er einen anfunkelt, nicht war?«
»Ich habe nicht darauf geachtet«, entgegnete Nichola. »Keiner der Normannen kann auch nur annähernd verstehen, welche Höllenqualen Justin durchmacht«, flüsterte sie. »Bitte, erzähl mir von Ulric. Wie geht es meinem kleinen Neffen?«
Alice strahlte. »Er ist eine ganz schöner Quälgeist, seit er kriechen kann. Vorgestern hat er seinen ersten Zahn bekommen.«
»Ist das nicht zu früh?«, fragte Nichola.
»Nein, nein. Ulric ist genau richtig für sein Alter. Ihr habt nicht viel Erfahrungen mit Säuglingen, aber Ihr könnt mir ruhig glauben, daß ihm gar nichts fehlt.«
Nichola nickte. »Ich wünschte, ich hätte ihn mit hierhergebracht. Ich mache mir große Sorgen um ihn, Alice. Oh, natürlich weiß ich, daß ihr, Clarise und du, gut für ihn sorgt und alles für ihn tut, aber ich ...«
»Ihr habt Euch ganz richtig entschieden«, fiel Alice ihr ins Wort. »Ihr wußtet ja nicht einmal, ob Ihr das Kloster unbeschadet erreichen oder gefangengenommen würdet«, erinnerte sie ihre Herrin. »Und bei der Kälte hätte sich Ulric den Tod holen können – außerdem, wie hättet ihr der normannischen Eskorte erklärt, daß Ihr den Sohn einer Dienerin mit ins Kloster nehmt? Sie dachten ja, daß Ihr Schwester Danielle seid. Macht Euch keine Gedanken, Mylady, Ulric geht es auf Rosewood gut, und er ist in Sicherheit. Es ist genau, wie wir vermutet haben«, fügte sie mit einem Nicken hinzu. »Die Normannen beachten ein so kleines Kind überhaupt nicht. Sie glauben immer noch, daß Ulric der Sohn einer Dienerin ist. Clarise paßt auf, daß er immer im oberen Stockwerk bleibt, und ich glaube, Baron Royce hat ganz vergessen, daß er im Haus ist.«
»Ich bete zu Gott, daß sein Vater noch am Leben ist«, hauchte Nichola. »Je länger wir ohne Nachricht von ihm sind, desto mehr bin ich überzeugt, daß Thurston tot ist, Alice.«
»Ihr dürft solche düsteren Gedanken gar nicht zulassen«, erwiderte Alice und wischte sich mit dem Saum ihres Gewands über die Augen. »Gott kann nicht so grausam sein und dem kleinen Ulric Mutter und Vater nehmen. Euer Bruder lebt sicher noch, Ihr dürft nur die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Das ist wahr, mir ist ja nur noch die Hoffnung geblieben.«
Alice tätschelte ihrer Herrin die Hand. »Baron Royce glaubt, daß Ihr verheiratet gewesen seid«, erzählte sie weiter. »Dieser Narr James ist der Meinung, daß die Hochzeit mit Ruolf zustande gekommen ist. Wir haben uns ins Fäustchen gelacht – dieser neunmalkluge Verräter weiß doch gar nichts. Ich hoffe, daß Baron Royce James am Schlafittchen packt und im hohen Bogen rausschmeißt, wenn er die Wahrheit erfährt.«
Bennett und Oscar, zwei Stallknechte, kamen, um Alice zur Festung zurückzubegleiten. Sobald die drei treuen Diener weg waren, eilte Nichola ins Krankenzimmer und setzte sich an Justins Bett.
Die Laune ihres Bruders war so stürmisch wie das Wetter. Als er endlich eingeschlafen war, beugte sich Nichola über ihn und zog die Decke über seine Schultern. Plötzlich traf seine rechte Hand ihre Wange – rein zufällig, weil er ja schlief, aber der Schlag war kräftig genug, um Nichola zu Boden zu werfen. Schon während sie fiel, spürte sie den Schmerz unter ihrem Auge und ahnte, daß sie noch vor dem Abend einen großen blauen Fleck haben würde.
Sie ließ Justin allein und wanderte ruhelos auf dem langen Flur auf und ab. Immer wieder blieb sie an einem der Fenster stehen und schaute hinaus. Am späten Nachmittag war sie überzeugt, daß Royces Plan, sie aus dem Kloster zu locken – wie auch immer dieser Plan ausgesehen haben mochte –, fehlgeschlagen war.
Sie wollte schon die Tierhäute vor die Fenster spannen, als das Donnern von Hufschlägen ihre Aufmerksamkeit weckte. Mindestens fünfzig Reiter sprengten auf das Kloster zu. Sie zügelten ihre Pferde am Fuß des steilen Pfades, der zum Portal führte, und die Wachen, die während der
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