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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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York.
    In Melton Mowbray hatte Catherine die Nacht über auf den Kirchenstufen gekauert und vor Angst und Verlorenheit gefröstelt unter dem Sommermond. Im Morgengrauen war sie nach Nottingham aufgebrochen, zwanzig Meilen an einem einzigen Tag, ununterbrochenes Marschieren bis zum späten Abend. Aber Elias war nicht hier. Sie hatte das Werkzeug und den Linsenkasten in die Werkstatt eingeschlossen und sich auf die Suche nach ihm gemacht. Er mußte in der Stadt sein, hatte sie gedacht, Elias gehörte zu Nottingham, er wohnte in der Bottle Lane zwischen Bridlesmith Gate und Fletcher Gate, zwischen der Straße der Schmiede und der Straße der Schlachter, dort war er immer gewesen, das war sein Heim, seine Werkstatt, sein Zuhause.
    Es war, als hätten die vier Jahre, die sie inzwischen als Frau des Brillenmachers in Nottingham lebte, nicht stattgefunden. Was vertraut geschienen hatte, die brusthohe Mauer, die den Marktplatz in Viehställe und Händlerbuden teilte, der am Galgen baumelnde Stuhl über dem Wasserbecken, Wasserstuhl genannt und eine Drohung für aufmüpfige Händler, die Schlachthäuser und die dampfenden Blutgräben, der Jauchegraf mit seinen Gehilfen, die die Senkgruben ausleeren kamen, die streunenden Hunde und Katzen, die seit Jahren denselben Hinterhof bewohnten – alles, was vertraut gewesen war, schmeckte plötzlich bitter und fremd.
    Catherine betrat den Hof. Wie oft hatte sie aus dem Brunnen Wasser geschöpft, wie oft sich in diesem Bretterverschlag |52| gewaschen. Die Ziege der Nachbarn stierte herüber. Zwischen ihren Beinen pickten Hühner im Sand. Catherine stieg die hölzerne Außentreppe hinauf, am Fenster der Schlafkammer vorbei, bis in Burghwennas Stockwerk. Sie klopfte an, das tat sie immer, auch wenn Burgwhenna es nicht hörte. Als sie die Tür aufschob, stieß sie beinahe mit der Alten zusammen.
    Burgwhenna grinste. Ohne Zweifel, sie hatte Catherine wiedererkannt. Burgwhenna, die taube Alte, wußte, wo Catherine hingehörte. »Sag, hast du dem Hundeschläger schon Bescheid gegeben?« schrie sie. »Ich möchte nicht, daß er meinen Liebling für einen Streuner hält. Er wohnt doch jetzt in der Stoney Street.«
    »Dein Hund ist seit zwanzig Jahren tot.«
    »Was hast du gesagt?«
    Catherine wies auf das Hörrohr in der Hand der Alten.
    Burgwhenna nickte und hielt es sich ans rechte Ohr, auf dem sie noch ein wenig hörte. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen.
    »Dein Hund ist seit zwanzig Jahren tot.«
    »Ach? Und hast du ihm die Innereien gebracht, wie ich dich gebeten hatte?«
    »Dein Hund ist tot! Seit zwanzig Jahren.«
    Burgwhenna nahm das Hörrohr herunter. Sie legte den Kopf in den Nacken, um zu Catherine hinaufzublicken, und ihre Mundwinkel fielen herab. »Tot?«
    Catherine nickte. »Burgwhenna, ich muß dich etwas fragen.«
    »Was sagst du?« Die Alte lauschte durch das Rohr.
    »Hast du Elias gesehen?«
    »Und warum erzählst du mir das?«
    »Nein, ich frage dich! War Elias hier in der letzten Zeit?«
    »Elias?«
    »Ja, ob er hier war.«
    Burgwhenna schüttelte den Kopf. Sie wischte sich die gichtgekrümmten Finger am Bauch ab. Aus ihren Augen blickte ein Kind. »Nein, Elias war nicht hier. Sorgst du dich?«
    |53| Catherine zuckte zusammen. Die Alte schien ihr direkt ins Herz zu blicken.
    Dann verlor sich die Wachheit wieder aus ihren Augen, wie ein Vogel, der in die Ferne entschwebt. »Ich muß verreisen. Meine Eltern brauchen Hilfe bei der Ernte. Sie sind nicht mehr die Jüngsten.«
    Catherine nahm die Hand der Alten und streichelte sie. »Du mußt dir um sie keine Sorgen mehr machen, Burgwhenna.«
    Sie stieg die Treppe hinunter und murmelte ein Vaterunser. In der Werkstatt spielten Staubteilchen zwischen den Pfeilern im gelben Licht der Kuhhautfenster. Das Elend hatte sich in der Mitte der Werkstatt in Form eines Linsenkastens und einiger Werkzeugtaschen zusammengekauert. Catherine verlangte danach, diese Schätze ihres Mannes, die ihr plötzlich kümmerlich erschienen, an sich zu schmiegen, sie zu wärmen, ihnen neues Leben einzuhauchen. Sie kniete sich nieder und band den Kasten auf.
    Pergamente. Dicke, helle Blätter, längs gefaltet, deckten die Linsen zu. Sie fächerten sich auf. Catherine nahm sie heraus und strich sie glatt. Spatzen waren mit rußgeschwärzten Füßen darübergelaufen, Reihe für Reihe. Ab und an war ein Vogelfuß rot gefärbt. Seit wann interessierte sich Elias für Schriften? Er konnte lesen, ja, und er half denen, die es im Alter nicht mehr vermochten

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