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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Sehne.
    »Bis zum Ohr anziehen.«
    Bis zum Ohr! Er schaffte es kaum bis zum Mund! Und zielen wollte er. Zielen mußte er. Es ist nur ein Kieselstein, sagte sich Alan. Ich schieße mit einem Kieselstein auf eine Scheibe, nichts weiter von Bedeutung.
    Er hörte den Pförtner fragen, wie weit die Zielscheiben entfernt seien.
    »Hundert Yard.«
    Hundert Yard. Er merkte, wie die Kraft in seinem Arm nachließ. Für May! dachte er. Mit einem Ruck zog er die Sehne zurück und schoß. Es pfiff leise, dann gab es einen dumpfen Laut bei den Zielscheiben.
    »Unmöglich«, hauchte David.
    Die Männer sprangen auf und rannten zum Ende der Wiese.

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    |175| 17
    Die Kraniche kehrten nach England zurück. Zu Speerspitzen geformt schwebten sie über den Himmel, metallenes Weiß auf dem roten Schimmer der Märzwolken. Über Newstead Abbey sanken sie herab, um an den grünen Ufern des Leen zu rasten. Sie falteten die weiten Schwingen an die Körper und ordneten mit den Schnäbeln die Federn. In Paaren stelzten sie auf schwarzen Beinen umher. Als wollte er den Besuch des Schwarms verkünden, trompetete einer der Vögel ein Signal. Jeder im Augustinerstift hörte den Ton, man seufzte und dachte: Die Kraniche sind wieder da, es wird Frühling. Mit einer Ausnahme. Catherine hörte nichts. Catherine seufzte auch nicht. Sie atmete in Stößen und zitterte vor Erschöpfung. Ihre Schenkel schmerzten. Ihr Bauch härtete sich, vielleicht das hundertste Mal in diesen Tagen, nur ein wenig heftiger. Catherines Eingeweide wurden schier erdrückt, sie hob den Kopf, biß die Zähne zusammen. Ein Tränenschleier lag vor ihren Augen. Hinter dem Vorhang tuschelten die Augustiner im Calefaktorium. Catherine kämpfte. Sie fürchtete, daß ihre Kraft nicht mehr ausreichen würde, und sie schämte sich vor all den Männern.
    Die Schmerzen trieben sie an den Rand der Besinnung. Sie meinte, aufgeben zu müssen, krallte die Hände in das Tuch. Da trat unvermittelt Erleichterung ein, es geschah etwas, das sie nicht mehr befördern mußte, schnell, leicht. Ihr Körper gab das Kind frei. Ein heller Schrei ertönte. Eine neue, ungehörte Stimme. Der Eroberungsruf eines neuen Menschen, der leben wollte und bereit war, dafür zu kämpfen. Man gab ihn Catherine an den Hals, warm und naß und winzig. Sie drückte ihn an sich. »Laurence.«
    Die Frau aus dem Dorf sagte: »Es ist ein Mädchen. Ich gratuliere.«
    |176| Ein Mädchen? Laurence war ein Mädchen?
»Lullay, lullay«
, flüsterte sie,
»sleep softly now, hush, my child.«
Sie mußte Atem holen. Die Wehen hatten noch nicht aufgehört. Ein Mädchen. Laurence war ein Mädchen. Sie streichelte das winzige Näschen im roten, faltigen Gesicht. Weiß blitzten Augen auf, riesengroß, und schlossen sich wieder.
    Eine kratzige Stimme drang an Catherines Ohr: »Ich möchte das Kind sehen.«
    »Vergeßt es.« Die Stimme des Abts. »Schert Euch fort, Repton, auf der Stelle!«
    »Nehmt die Finger von meiner Kleidung, oder Ihr werdet mit Eurem Blut bezahlen.«
    »So droht Ihr mir?«
    Reptons Gegenwart widerte sie an. Er sollte verschwinden von hier! Er störte den Frieden. Sein Atemhauch wehte über den Vorhang herüber, und sie wollte ihn nicht schmecken, wollte ihn nicht im Mund und nicht in der Kehle haben, es war Luft, die er berührt hatte, und sie erregte Ekel.
    »Geht, Repton«, befahl der Abt.
    Repton hatte dem Erzbischof von ihrer Schwangerschaft erzählt, und damit hatte er alles vernichtet. Die Aufträge hatten rasch nachgelassen, um schließlich ganz auszubleiben. Noch im November war Courtenay nach Canterbury abgereist. Mit ihm war die Wärme aus Catherines Leben verschwunden. Sie haßte Repton. Wann würden sie sie hinauswerfen? Die Augustiner wollten sie sicher rasch loswerden. Ohne den Schutz des Erzbischofs war sie ihnen ausgeliefert. Vermutlich hatten sie gewartet, bis das Kind zur Welt kam, und in einigen Tagen würden sie sie darum bitten, daß sie das Stift verließ. »Es wird nicht leicht für uns«, flüsterte sie. Ihre Tochter. Sie brauchte einen Namen. »Du sollst …« Sie dachte nach. Welche Mädchennamen kannte sie? Warum hörten die Schmerzen nicht auf? »Sag mir, gute Frau, bekomme ich noch ein Kind? Die Wehen wollen nicht nachlassen.«
    »Nein, dein Bauch ist abgeschwollen. Da ist kein Kind mehr. Du mußt noch die Nachgeburt zur Welt bringen, das ist alles.«
    |177| Nun wußte sie es. Keine Frage, der Name paßte, er gehörte zu diesem neuen Menschen. »Hawisia. Meine Tochter wird Hawisia

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