Die Brillenmacherin
Menschen. Zwei Bauern, deren Felder aneinandergrenzten, stritten um drei Schritt Erde. Der eine behauptete, der andere habe die Grenzsteine versetzt. Er habe sein Feld erweitert, indem er drei Schritt auf der anderen Seite mitpflügte, und nun sehe es so aus, als würden sie ihm gehören. Damit es nicht auffalle, habe er die Grenzsteine ausgegraben und dem neuen Verlauf des Feldes angepaßt. Man sehe es deutlich: Jener Busch und jener Baum hätten seit jeher auf seiner Seite gestanden, nun stünden sie beim Nachbarn.
Alan grüßte freundlich.
Die Bauern unterbrachen ihren Streit, starrten ihn an. Kein Zweifel, sie erkannten ihn.
Er lächelte. Stehen blieb er nicht. Sollten sie ihm nachschauen, wie er in seinem hellblauen Rock ins Dorf wanderte, mit den roten Strümpfen und den neuen Schuhen. Er war gut |242| angezogen: Der Rock trug Schließen aus Messing, er hatte sie mit einem Tuch geputzt, bis sie blinkten. Die Schuhe spitzten sich vor den Zehen zu und liefen in langen Zipfeln aus. Deutlich zeigte die Kleidung, daß er Geld besaß. Er hatte seinen ganzen Lohn hineingesteckt, und man sah nun, er konnte für eine Frau sorgen, er war ein Schwiegersohn, auf den man stolz sein konnte.
In der Hand trug er den bemalten Bogen. Ohne Sehne sah er aus wie ein überlanger Wanderstab. Viele der Bauern würden nicht einmal wissen, was der Stab darstellte. Alan war ihnen voraus. Alan war Langbogenschütze. Alan arbeitete für den Erzbischof von Canterbury.
Vor Mays Tor glättete er den Rock, schloß die oberen Schließen, fuhr sich über den Haarschopf. Er klopfte und trat ein.
»Ihr wünscht?« fragte die Hofmagd. Plötzlich riß sie die Augen auf. »Alan?«
»Der bin ich.«
»Was ist passiert?«
»Ich stehe in den Diensten des Erzbischofs von Canterbury. Man hat mich als Langbogenschützen angeworben.«
Sie kam heran, befühlte seinen Rock. »So ein schönes Himmelblau!«
»Wo ist May?«
Die Hand zuckte zurück und erstarrte. Errötend senkte die Magd den Blick. »Willst du hier auf sie warten?«
»Nein, ich gehe zu ihr. Wo finde ich sie?«
»Es ist besser, wenn …« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Es ist wirklich besser, wenn du wartest.«
»Was ist los?«
»Wo du doch nun so lange verschwunden warst! Sie wird heiraten. Sie konnte dem Herrn Vogt nicht mehr standhalten.«
»Wen heiratet sie?«
»Den Spanneby.«
Den Spanneby. Nach dem Vogt und seinen Anvertrauten waren die Spannebys die vermögendste Familie im Ort. Sie |243| besaßen gutes Land, Schafe, Rinder und Schweine. »Den Ältesten?«
»Den Ältesten.«
Den Erben also. Der älteste Spanneby war ein Dummkopf, kräftig gebaut, die Ohren etwas klein geraten. Er liebte Ringkämpfe, und er gewann sie alle. Zu sprechen, das liebte er nicht; er war ein Anpacker, der gelernt hatte, daß es klüger war, wenn er den Mund nicht aufmachte. Ihn sollte May lieben? »Wann ist die Hochzeit?«
»Diesen Sommer.«
Alan straffte sich. »Davon halte ich nichts.« Er umschloß den Bogen fest am garnumwickelten Griff. »Es wird eine Hochzeit geben, aber keine mit dem Spanneby.«
»Das ist alles schon ausgehandelt, Alan.«
»Was kümmert es mich! May ist bei ihm?«
»Sie säen Gerste, oben beim Birkenwäldchen.«
»Und der Vogt?«
»Er weiß es.«
»Das meine ich nicht. Wo ist er? Wann kommt er zurück?«
»Er ist hinten auf der Weide. Eine Kuh kalbt.«
»Sag ihm nicht, daß ich da bin. Ich will zuerst mit May sprechen.«
»Alan, mach keinen Unsinn, du weißt doch, welchen Dickkopf der Herr Vogt hat! May ist seine Tochter, und er hat die Sache festgemacht.«
»Vor dem Spanneby war
ich
da«, sagte er und verließ den Hof. Den Weg zum Feld am Birkenwäldchen ging er mit großen, starken Schritten. Sobald May sah, daß er lebte, würde sie den Rivalen stehenlassen und ihm um den Hals fallen.
Die Schlehenbüsche blühten. Sie trugen noch keine Blätter, nur weiße Tupfer im Dornengeäst. Am Horizont wiegten sich die weißen Stämmchen der Birken.
Dort, auf dem Feld, schritt der Spanneby entlang der Ackerfurchen, griff Samen aus einem Tuch, das er sich um den Bauch gebunden hatte, und streute sie in hohem Bogen aus. Hinter ihm ging May. Sie hielt einen Moorbirkenzweig mit Kätzchen, |244| die wie weiche, gelbe Würmer über den Zweig krochen. Die
Kätzchen ließ sie dem Spanneby über den Nacken tanzen. Lachend duckte er sich darunter und schlug danach. May lachte auch.
May lachte! Er, Alan, war verschollen, und May neckte den Spanneby und schien
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