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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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eine besondere Faszination auszuüben schienen.
    Noch von Abbotsford aus hatte Sir Walter Gainswick einen Brief geschrieben und ihm mitgeteilt, dass er ihn in Edinburgh besuchen wolle. Schon kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt hatte der Professor ihn per Boten darüber in Kenntnis setzen lassen, dass er über einen Besuch höchst erfreut wäre.
    Quentin, der sich nach anfänglichem Zögern bereit erklärt hatte, seinen Onkel bei den Nachforschungen zu unterstützen, bereute seinen Entschluss fast, als er sah, wohin der Kutscher die Droschke lenkte: in die High Street, die in zunächst sanfter, dann immer steilerer Steigung zur Königsburg hinaufführte, vorbei an der Kathedrale von St. Giles und dem Parlamentsgebäude, das Sir Walter nur zu vertraut war, denn hier tagte der Oberste schottische Gerichtshof, der in regelmäßigen Abständen zusammentrat und dem er vorstand.
    Der Grund für Quentins Unbehagen war der Umstand, dass die High Street – oder ›königliche Meile‹, wie sie im Volksmund genannt wurde – gleichzeitig auch die Straße war, an der mit Abstand die meisten Spukhäuser standen. Hier hatten all die grausigen Geschichten gespielt, mit denen der alte Geister-Max die Kinder erschreckt hatte, und obwohl Quentin inzwischen natürlich wusste, dass es nur erfundene Geschichten gewesen waren, konnte er sich eines gewissen Schauders nicht erwehren.
    Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als die Droschke ihr Ziel erreichte. Nachwächter in dunklen Mänteln waren dabei, die Gaslaternen zu entzünden, die die Straße bis zur Burg hinauf säumten. Ihr fahler Schein vertrieb zwar die Dunkelheit, trug in Quentins Augen aber nicht dazu bei, die Szenerie weniger unheimlich zu machen.
    Die schmalen, hohen Fassaden der Lands, wie die Häuser entlang der High Street genannt wurden, reckten sich düster und unheimlich in den wolkigen Nachthimmel. Dazwischen erstreckten sich schmale, von fensterlosen Mauern gesäumte Seitengassen, Wynds genannt, die in abgelegene Hinterhöfe führten, die nicht umsonst als Closes bezeichnet wurden. In weniger zivilisierten Tagen war es nicht selten vorgekommen, dass arglosen Spaziergängern dort aufgelauert worden war und sie ein Messer zwischen die Rippen bekommen hatten – und ihre ruhelosen Geister gingen, wie es hieß, noch heute in den Gassen und Höfen um …
    Als Quentin aus der Kutsche stieg, machte er ein so betretenes Gesicht, dass Sir Walter schmunzeln musste.
    »Was ist mit dir, mein Junge? Du hast nicht etwa ein Gespenst gesehen?«
    Quentin zuckte zusammen. »Nein, Onkel, natürlich nicht. Aber ich mag diese Gegend trotzdem nicht.«
    »Auch auf die Gefahr hin, dich zu enttäuschen – in den letzten Jahren wurde, soweit mir bekannt ist, kein Gespenst in der High Street gesichtet. Du kannst also beruhigt sein.«
    »Du machst dich über mich lustig.«
    »Nur ein wenig.« Sir Walter lächelte. »Bitte verzeih, aber es ist amüsant zu sehen, wie hartnäckig sich der Aberglaube trotz aller Aufgeklärtheit in unserem Volk behauptet. Möglicherweise unterscheiden wir uns von unseren Vorfahren nicht so sehr, wie wir es gern hätten.«
    »Wo wohnt Professor Gainswick?«, erkundigte sich Quentin, um das Thema zu wechseln.
    »Am Ende dieser Gasse«, erwiderte Sir Walter, in eine der Wynds deutend. Dass Quentin daraufhin ein verdrießliches Gesicht machte, übersah er geflissentlich.
    Sir Walter gebot dem Kutscher zu warten. Dann machten sie sich auf den Weg zum Haus des Professors, das tatsächlich am Ende des Wynds lag, auf der anderen Seite eines schmalen Hinterhofs. Mit seiner dunklen Fassade, den hohen Fenstern und dem spitzen Giebel sah es genau wie die Spukhäuser aus den alten Geschichten aus, und die Aussicht, den Abend dort in der Gesellschaft eines staubigen Gelehrten zu verbringen, behagte Quentin nicht.
    Sobald er Professor Gainswick jedoch erblickte, verflogen seine Vorurteile. Der Gelehrte, der seit einigen Jahren im Ruhestand lebte, war ein jovialer Zeitgenosse – kein hagerer, asketischer Brite, sondern ein Mann mit ausgeprägter Leibesmitte, die einen barocken Lebensstil verriet. Sein Kopf war nahezu kahl, aber sein Gesicht wurde von einem grauen Bart umrahmt, der ihm bis zu den Backen reichte. Kleine, listige Augen spähten unter buschigen Brauen hervor. Das gerötete Gesicht des Professors ließ ahnen, dass er neben den vielen anderen Vorzügen Schottlands auch den Scotch zu schätzen wusste. Sein untersetzter Körper steckte in einem Herrenmantel

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