Die Bruderschaft des Feuers
stumm gewesen, doch Clara hatte ihm erklärt, dass ihr kleiner Bruder früher gesprochen hatte. Und da seine Zunge unversehrt war und Mondino ihm zugesichert hatte, dass auch der Kehlkopf keine Verletzungen aufwies, musste seine Stummheit eine Folge der schrecklichen Dinge sein, die der Junge in den Fängen der alten Filomena erlitten hatte.
Gerardo hob die Augen und betrachtete den großen rechteckigen Raum, wo sich diese verlassenen Jungen gerade zur Nachtruhe begaben. Bis vor Kurzem hatten sie noch auf dem nackten Steinfußboden geschlafen, aber dank einer Spende von ihm trennte sie nun eine Reihe zwei Arm langer Pappelholzbretter von dem kalten Stein. Sie waren barfuß, stets lief ihnen der Rotz aus der Nase, und oft hatten sie einen aufgeblähten Bauch. Alle trugen dieselben groben, aus einem Kornsack gefertigten Hanfkutten mit einem Loch in der Mitte und zweien an der Seite für Kopf und Arme. Und der Kopf war bei allen geschoren, damit sich Flöhe und Läuse nicht ungehemmt unter ihnen verbreiteten.
Masino war immer noch sehr froh darüber, nicht mehr der Sklave von diesem Abschaum zu sein, der kein Recht hatte, sich als Menschen zu bezeichnen, doch Gerardo konnte sich gut vorstellen, wie sehr er sich ein Heim und eine Familie wünschte. Und er wusste nicht, wie er ihm beibringen sollte, dass dies nicht möglich war. Jedenfalls nicht gleich.
»Clara möchte auch sehr gern, dass du bei ihr lebst«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Aber sie muss den richtigen Zeitpunkt abwarten. Natürlich kann sie ihre Arbeit nicht aufgeben: Die Zeiten sind hart, vielleicht würde sie keine andere finden. Du weißt doch selbst, dass es diesen Sommer eine Hungersnot gegeben hat. Was würdest du essen? Nein, du musst Geduld haben und abwarten, dass sie eine Möglichkeit findet, dich zu der Familie mitzunehmen, für die sie arbeitet. Das wird ein Weilchen dauern, aber ich bin überzeugt, es wird ihr gelingen.«
Masino sah ihn wieder eindringlich an, als wollte er ergründen, ob der andere wirklich die Wahrheit sagte. Gerardo hielt seinem Blick stand, in der Hoffnung, dass man ihm die Lüge nicht anmerkte.
Schließlich nickte der kleine Junge, doch er wirkte eher schicksalsergeben als überzeugt.
Gerardo legte ihm eine Hand auf den Kopf und spürte, wie die Haarstoppeln in seine Hand stachen wie die Borsten einer Bürste. Er hatte längst gelernt, dass man mit diesem stummen Knaben besser so sprach wie mit einem Erwachsenen und alles genau begründete.
In diesem Augenblick betrat ein Mönch den Raum, durchquerte den schmalen Durchgang zwischen den zwei Reihen aus Pappelholzbrettern und kam zu Gerardo und Masino.
»Ich bleibe bei ihnen, bis sie eingeschlafen sind«, erklärte er. »Du wirst beim Pförtner verlangt.«
»Beim Pförtner? Zu dieser Stunde?«
Der Mönch nickte. »Oh ja. Bald wird es zum Komplet läuten. Ich frage mich wirklich, was für eine Disziplin die Franziskaner pflegen, wenn sie ihre Mönche in der Dunkelheit ausgehen lassen.«
»Ich gehe sofort hin«, erwiderte Gerardo verblüfft.
Er ließ den Mönch bei den Kindern wachen, was notwendig war, um nächtliche Raufereien zu verhindern, zu denen es selbst wegen eines Brotkanten oder eines Stücks bunten Stoffs kommen konnte, und lief durch das Refektorium und an der menschenleeren Küche vorbei in Richtung Pforte. Jemand hatte schon für die Nacht die Öllampen gelöscht, und an den dunkelsten Stellen musste er sich vorwärtstasten.
Doch die Pförtnerloge des Klosters war von zwei Kerzen in Tonleuchtern erhellt, die auf dem Tisch standen, an dem tagsüber der Bruder Pförtner saß. Vor dem Tisch erkannte Gerardo den Mönch, der am Morgen den Capitano del Popolo begleitet hatte, um seinen ermordeten Mitbruder zu identifizieren. Das zarte Gesicht des jungen Mannes glühte wie im Fieber.
»Endlich!«, rief der Mönch aus, sobald er seiner ansichtig wurde. »Erinnert Ihr Euch an mich?«
»Selbstverständlich, Bruder Samuele. Welchem Umstand verdanke ich Euren Besuch?«
»Ich habe etwas für Euch«, sagte der Mönch hastig. »Doch zuerst muss ich mit Euch reden. Sind wir hier vor neugierigen Ohren geschützt?«
Gerardo wies auf die Dunkelheit hinter sich. »Die Mönche haben sich schon zur Nachtruhe zurückgezogen. Wir sind allein.«
Samuele musterte aufmerksam den Flur, als wollte er sich überzeugen, dass Gerardo die Wahrheit gesprochen hatte. Dann kam er näher und sagte: »Ich bin hier wegen des Mönches, der im Pratelloviertel tot aufgefunden
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