Die Bruderschaft des Feuers
Tempel dieser Art in der Stadt, und das wundert mich nicht«, erwiderte Michele da Castenaso trocken. »Wenn es die Sekte, von der Ihr sprecht, wirklich gibt, wird sie äußerste Geheimhaltung pflegen. Auf so etwas steht der Scheiterhaufen.«
Gerardo nickte. Der Blinde erzählte ihm nichts Neues.
»Und dennoch«, fuhr der alte Mann fort, »kann ich Euch sagen, wo Ihr suchen müsst. Ein Mithraeum muss unter der Erde liegen oder sonst auf irgendeine Weise die Atmosphäre eines unterirdischen Raumes schaffen, weil man sagt, dass Mithras in einer Felsenhöhle geboren wurde. Und solch ein Ort muss sich in der Nähe von Wasser befinden.«
»Was Ihr sagt, ist sehr wertvoll«, erwiderte Gerardo. »Aber leider zu ungenau. Es ist sehr leicht, eine höhlenartige Umgebung zu erschaffen, und Ihr wisst besser als ich, dass etliche Keller und Lagerräume Bolognas durch das Wasser geflutet werden, das von den Kanälen eindringt.«
»Ich habe mich wohl nicht genau ausgedrückt«, sagte der alte Mann. »Ein Mithraeum muss neben einer Quelle mit klarem Wasser liegen, das für die rituellen Waschungen benötigt wird. Das schmutzige Wasser aus den Kanälen wäre nicht zu gebrauchen.«
»Woher wisst Ihr so viel über einen heidnischen Kult?«, fragte Gerardo.
Der alte Mann lachte erneut. »Wüsste ich nicht, was Ihr erst vor Kurzem durch die Inquisition erleiden musstet«, sagte er, »könnte ich denken, dass Ihr mich in eine Falle locken wollt, um mich der Ketzerei oder Schlimmerem zu bezichtigen. Tatsächlich ist die Antwort ganz einfach: Ich habe die Heiligtümer der alten Religionen studiert, so wie vor mir schon die Erbauer der gotischen und romanischen Kathedralen, um die zahlreichen verlorengegangenen Geheimnisse des Maurerhandwerks zu ergründen, welche ich dann in meiner Kunst zum Ruhme Gottes eingesetzt habe.«
Im helleren Teil der Osteria wurde ein Chor angestimmt, der die Schönheit einer gewissen Clara besang, und Gerardos Gedanken eilten zu Masinos Schwester. Er hoffte wirklich, dass das Mädchen sich bald wieder sehen ließ, sonst hätte er schwerlich eine Erklärung gefunden, die den Jungen nicht verletzte.
»Einen Soldo für Eure Gedanken.«
Gerardo wandte sich ruckartig um, fast als erwartete er, dass der Alte ihn anstarrte, doch er blickte nur in dessen leere Pupillen.
»Ich dachte an eine Frau«, erklärte er. »Sie heißt Clara, genau wie die aus dem Lied.«
Michele da Castenaso lächelte feinsinnig. »Ich hoffe, dass sie sich nicht auch genauso verhält.«
»Nein, da könnt Ihr beruhigt sein«, antwortete Gerardo, um das Thema zu beenden. »Könnt Ihr mir wirklich nichts Genaueres darüber sagen, wo man einen Tempel suchen könnte, der Zurvàn geweiht ist?«
Der Alte schwieg lange, ehe er antwortete. »Ich müsste nicht so freundlich sein zu jemandem, der mir kein Vertrauen entgegenbringt«, sagte er dann. »Doch ich bin Euch dankbar dafür, dass Ihr vorhin Abdul geholfen habt. Ich werde die Baumeister fragen, die ich kenne, ob sie etwas in den Häusern bemerkt haben, die sie in den letzten Jahren erbaut oder umgebaut haben.«
»Das habe ich auch schon getan«, seufzte Gerardo. »Aber ich habe nichts von ihnen erfahren.«
»Mir werden sie sagen, was sie Euch nicht erzählt haben«, erwiderte Michele da Castenaso. »Natürlich müsstet Ihr mir die Zeichnung hierlassen.« Gerardo zuckte zusammen, was der Alte bemerkte. »Wenn Ihr mir nicht einmal so viel Vertrauen schenkt«, erwiderte er äußerst scharf, »sehe ich nicht ein, weshalb ich mir die Mühe machen sollte, Euch zu helfen.«
Gerardo überlegte. Im Grunde kannte er das Götzenbild jetzt auswendig und konnte sich immer noch aus dem Gedächtnis eine Skizze herstellen, sobald er wieder im Waisenhaus war. Vielleicht würde sie nicht so schön wie die von Bruder Samuele ausfallen, der ein besonderes Talent für Zeichnungen zu haben schien, aber schließlich ging es nicht darum, ein Kunstwerk anzufertigen. Auf der anderen Seite wäre es dumm, die Unterstützung des Vorstehers der Maurerzunft auszuschlagen.
Er fuhr mit einer Hand unter das Gewand zur Innentasche, wo er das zusammengefaltete Blatt aufbewahrte, holte es hervor und drückte es dem Blinden in die Hand.
»Wo kann ich Euch finden, um etwas zu erfahren?«, fragte er.
»Kommt morgen zur fünften Stunde zum Sitz der Zunft in der Via delle Pescherie. Damit Ihr unbehelligt eintreten könnt, macht dieses Zeichen.« Er verschränkte schnell die Hände, wobei er jeweils die drei mittleren Finger
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