Die Bruderschaft des Feuers
eher Euch«, antwortete der Mann. »Abdul ist einer von uns, es war unsere Pflicht, ihn zu verteidigen.«
Im gleichen Moment erschien der Mann mit der blutenden Nase wieder, er machte ein zufriedenes Gesicht und strebte dem Ausgang zu. Gleich darauf kam der Sarazene zu Gerardo und sagte: »Mein Meister möchte mit Euch sprechen, Messere.«
»Euer Meister?«
»Geht nur«, sagte der Mann mit dem breiten Mund. »Abdul ist Lehrling bei Michele da Castenaso. Es ist eine Ehre für Euch, dass der Meister Euch persönlich danken möchte.«
Nach diesen Worten setzten sich die drei wieder auf ihre Plätze, und Gerardo folgte dem jungen Mann zu einem Tisch an der rückwärtigen Wand, die vom Licht der Öllampen fast nicht mehr erreicht wurde. Hinter diesem Tisch, mit dem Rücken zur Wand, saß ein alter Mann mit langen weißen Haaren und einem speckig glänzenden schwarzen Gewand.
»Setzt Euch«, sagte er in einem leicht unnatürlichen Tonfall, den Gerardo schon öfter an Straßenecken von Bettlern gehört hatte. Daraufhin schaute er dem alten Mann genauer ins Gesicht und bemerkte, dass dieser blind war.
»Seid Ihr Michele da Castenaso?«, fragte er.
»Höchstpersönlich. Und Ihr seid …?«
»Gerardo da Castelbretone, zu Euren Diensten.«
Ein Lächeln zeichnete sich auf den rissigen Lippen des alten Mannes ab. »Der Tempelritter«, sagte er fast wie zu sich selbst. »Ich danke Euch, dass Ihr meinen Lehrling verteidigt habt. Abdul ist dem Laster des Spiels verfallen und verliert deutlich mehr, als er verdient.«
»Meister …«, begann der junge Mann.
Michele da Castenasos Stimme wurde hart. »Das ist das letzte Mal, dass ich deine Schulden begleiche, Abdul. Beim nächsten Mal wirst du aus der Zunft ausgeschlossen. Nun geh.«
Der Sarazene ging mit gesenktem Kopf in die Mitte des Raums, wo er von demselben Mann auf einen Trunk eingeladen wurde, der ihm zuvor ein Bein gestellt hatte. Abdul packte den Becher mit beiden Händen und nahm einen langen Schluck Wein, zum Zeichen, dass er kein Muselman war. Beifall erhob sich und Rufe wie »Es lebe Christus, der Erlöser!«, bevor wieder Ruhe in der Schenke einkehrte.
Michele da Castenaso drehte sich Gerardo im Dreiviertelprofil zu, als würde er anstelle der fehlenden Augen seinem Gesprächspartner die Ohren zuwenden.
»Mir wurde berichtet, dass Ihr heute auf verschiedenen Baustellen wart und eine merkwürdige Zeichnung herumgezeigt habt«, sagte er.
»Wie kommt es, dass Ihr so gut über mich unterrichtet seid?«, fragte Gerardo überrascht. »Ich verstehe ja, dass Ihr meinen Namen kennt, ich bin unfreiwillig berühmter geworden, als mir lieb ist. Aber wie könnt Ihr wissen, wo ich heute gewesen bin? Habt Ihr mich verfolgen lassen?«
Das Lächeln auf den Lippen des Alten verwandelte sich in lautes Gelächter. »Mein lieber Junge, unter den freien Maurern Bolognas geschieht herzlich wenig, worüber ich nicht auf dem Laufenden bin, da ich der gewählte Vorsteher der Zunft bin.«
»Ihr? Aber …«
»Ich weiß selbst, dass ich blind bin«, sagte Michele. »Aber davor war ich ein ziemlich angesehener magister comacino , und die Mitglieder der Zunft hielten es für richtig, mich in Anerkennung meiner Verdienste für zwei Amtszeiten in Folge an ihre Spitze zu wählen. Um die Aufgaben der Zunft zu verwalten und Streit zu schlichten muss man nicht unbedingt sehen können.«
»Dann«, entgegnete Gerardo, »wisst Ihr vielleicht auch, was die Zeichnung darstellt, die ich herumgezeigt habe.«
»Sie stellt Zurvàn dar«, sagte der Alte, während er, ohne zu zögern, den Krug auf dem Tisch fand und einen Schluck daraus nahm.
»Wen?«
»Im alten Mithraskult war Zurvàn der Gott, der den Lauf der Zeit überwachte. Die Flügel stehen für die Schnelligkeit, mit der sie verfließt, die Windungen der Schlange stellen die Sternenzyklen dar, und die Schlüssel in seiner Hand öffnen und schließen die Himmelspforten: im Osten, wenn die Sonne aufgeht, und im Westen, wenn sie untergeht. Aber weshalb interessiert Ihr Euch für eine heidnische Gottheit?«
Gerardo wusste nicht, wie viel er ihm sagen durfte. Michele da Castenaso war ein Fremder, und selbst wenn ihm sein Gefühl sagte, dass er ihm vertrauen konnte, hatte er gelernt, dass er sich genauso gut irren konnte.
»Mir steht es nicht frei, Euch das zu sagen«, antwortete er. »Aber ich würde gerne eines wissen: Wenn es in Bologna eine Sekte von Mithrasjüngern gäbe, wo hätte sie dann ihren Tempel?«
»Ich weiß von keinem
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