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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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schuldig waren.
    Dr. Goldmann spülte die Kalbshaxe mit großen Schlucken aus seinem Bierkrug hinunter, während Oscar langsam von seinem Fisch aß. Thunfisch sättigte rasch.
    Die Verteidigung habe also Mordversuch eingeräumt, was strategisch sehr klug war. Aus diesem Sachbestand hätte man sich ohnehin nicht herausreden können, und es sei immer besser, mildernde Umstände geltend zu machen, wenn es sich um einen Versuch und nicht um eine vollendete Straftat handelte, obwohl das Urteil in beiden Fällen gleich ausfiel.
    Die mildernden Umstände – kurze Pause, um die letzten Stücke der Kalbshaxe vom Teller zu räumen – seien interessanterweise politischer Art. Die Verteidigung vertrat den Standpunkt, die Kinandi hätten gute Gründe für ihre Befürchtung gehabt, dass der weiße Mann auf unakzeptable Weise in ihr Territorium eindringen würde. Damit lag also eine Art moralisches Recht auf Notwehr vor. Diese entband sie zwar nicht von der Verantwortung, aber Notwehr stelle einen mildernden Umstand dar.
    Jetzt verschwanden auch noch die letzten Krümel von Dr. Goldmanns Teller. Er kaute energisch, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, legte diese dann beiseite, nahm seinen Bierkrug und sah Oscar durchdringend an.
    »Nun, mein junger Eisenbahnbauer, was halten Sie von dieser Argumentation?«, fragte er, leerte den Bierkrug und winkte damit dem Kellner, der neben der Tür wartete und sofort herbeieilte, um ihm den Krug aus der Hand zu nehmen. Weitere Blitze erleuchteten das Zimmer. Alles wurde
eine Sekunde lang weiß. Oscar kam die Situation so unwirklich vor. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte.
    »Ich bin wie gesagt Eisenbahnbauer, auf die Auslegung von Gesetzen verstehe ich mich nicht«, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.
    »Genau das macht Ihre Meinung ja so interessant für einen alten Hasen wie mich«, meinte Dr. Goldmann und öffnete mit einem zufriedenen Seufzer zwei Knöpfe seiner schwarzen Weste. »Juristerei ist nicht nur ein Spiel, Juristerei ist, das sagen wir selbst zumindest, eine Mischung aus Moral und gesundem Menschenverstand. Möglicherweise auch aus den Zehn Geboten, was das Strafgesetz angeht. Was sagen also Ihr Instinkt und Ihr persönliches Rechtsgefühl, wenn Sie das hier hören? Das würde ich gerne wissen.«
    Oscar sah ein, dass es kein Entrinnen gab. Er musste eine Antwort auf eine Frage formulieren, von der er nichts verstand.
    »Wahr ist …«, begann er zögernd, »dass Straußenfedern und Hexenkünste gegen Waffen wie Mauser-und Mannlichergewehre nichts ausrichten können. Die Kinandi unternahmen also einen untauglichen Versuch, war das nicht der juristische Ausdruck?«
    »Ganz korrekt. Bitte sprechen Sie weiter!«
    »Wenn untaugliche Versuche laut unserem Gesetz straffrei bleiben …«, tastete sich Oscar weiter vor, »ist also das Argument logisch, dass sie keine Straftat begangen haben.«
    »Gut! So viel also zu dieser Frage«, konstatierte Dr. Goldmann, ohne erkennen zu lassen, was er selbst darüber dachte. »Wir wollen uns also vorsichtig weiter vorarbeiten.
Was halten Sie als Laie von dem Argument, dass ein mildernder Umstand vorliegt, weil die Kinandi davon überzeugt sind, ihr eigenes Land mit Waffengewalt verteidigen zu dürfen?«
    Oscar schwieg einen Augenblick, starrte auf den Tisch und zeichnete mit dem Zeigefinger Kreise auf die weiße Tischdecke. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus fasste er einen Entschluss und sah hoch.
    »Das stimmt!«, erwiderte er, ohne länger zu zögern. »Die Kinandi fühlten sich im Recht, weil sie ihr Land verteidigten. Die Frage muss jedoch lauten, ob wir dieses Recht anerkennen. Das tun wir natürlich nicht, wir sind hier aufgrund eines Beschlusses der Völkergemeinschaft, und das wiegt schwerer. Aber … als mildernder Umstand kann das doch wohl gelten?«
    Dr. Goldmann antwortete eine Weile lang nichts, da wieder Bier serviert wurde. Vorausschauend hatte man für Oscar ebenfalls einen Krug gebracht. Dr. Goldmann trank durstig, wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab, legte sie beiseite, griff zu seinem Zigarrenetui und bot Oscar eine an, der ablehnte. Anschließend erhöhte Dr. Goldmann die Spannung noch weiter, indem er sich an der Zigarre zu schaffen machte und genüsslich den ersten Zug inhalierte. Kritisch betrachtete er die Glut seiner Zigarre und wandte sich erst dann wieder an Oscar.
    »Wissen Sie, mein junger Freund, entschuldigen Sie diese familiäre Anrede, wissen Sie, dass Sie mich sehr

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