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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Er hatte sich von einer Hure die Examensgratifikation der Guten Absicht abluchsen lassen. Er würde seinen Brüdern nie wieder in die Augen schauen können. Er musste weg, weit weg.

    Als Lauritz an dem kleinen Bahnhof in der Provinz aus dem Zug stieg, warteten bereits Pferd und Wagen von Schloss Freital auf ihn. Der Kutscher teilte ihm mit, dass die Fahrt eine knappe halbe Stunde dauern würde.
    Der Weg zum Schloss und zu der wichtigen Entscheidung führte ihn durch eine hübsche, hügelige, überwiegend aus Weinbergen bestehende Landschaft.
    Die Sommersaison, in der Familie von Freital samt Dienerschaft ihre Stadtresidenz in der Wigardstraße zwischen der Carolabrücke und der Albertbrücke verließ, um die langen Ferien im Schloss zu verbringen, hatte noch nicht recht begonnen. Der Baron war schon einmal allein vorausgefahren. Er hatte auf Lauritz’ höchst formelle Bitte um eine Audienz mit einer Einladung des Freiers auf Schloss Freital mit Abendessen und Übernachtung geantwortet. Die Chancen standen also recht gut. Der Baron konnte kaum die Absicht haben, die große Frage mit einem Nein zu beantworten.
    Der Baron war Ehrenvorsitzender des Dresdner Velodromvereins, und Lauritz gehörte zu den erfolgreichsten Radrennfahrern in der Geschichte des Vereins. Auch das sprach für ihn.
    Er hatte das beste Examen seines Jahrgangs abgelegt, und die harte Arbeit, die diesem Erfolg vorangegangen war, hatte viel mehr mit Ingeborg zu tun als mit Prestige und Ehrgeiz. Sie hatte ihm versichert, dass es ihren Vater ungeheuer beeindrucken würde, wenn er den ersten Platz errang. Das sei sogar mehr wert als alle Siege im Velodrom.
    Es sprach einzig und allein gegen ihn, dass er arm war, vielleicht auch, dass er nicht adlig war, obwohl der Baron bei einem früheren Besuch, als er erfahren hatte, dass der
Frøynes Gård nach dem Wikingergott Frej benannt und schon seit tausend Jahren im Besitz derselben Familie war, sehr beeindruckt gewesen war. In diesem Zusammenhang hatte er erzählt, dass seine eigene Familie erst seit achthundert Jahren auf Schloss Freital wohne.
    Danach hatte er Nachforschungen angestellt und dabei alles aus seiner sozialen Perspektive Notwendige in Erfahrung gebracht, nämlich dass die Brüder Lauritzen einer Fischerfamilie entstammten.
    Nichtsdestotrotz war er Jahrgangsbester an der Technischen Hochschule, und der Baron hatte ihn nach Freital eingeladen. Wäre seine Absicht gewesen, sich nicht weiter mit der großen Frage zu befassen, wäre es das Einfachste und am wenigsten Peinliche gewesen, die Sache in der Winterresidenz in Dresden zu klären.
    Die Allee zum Schloss war von blühenden, mehrere Hundert Jahre alten Kastanien gesäumt. Ein schöner und imposanter Anblick. Angesichts des großen Anwesens kam sich Lauritz jedoch entwürdigend klein vor. Zum ersten Mal während seiner Reise wurde er nervös, als er neben dem Kutscher, der sein Gepäck trug, über den Kiesplatz auf das Hauptportal zuging.
    Ein Bedienter in Livree öffnete die Pforte, gerade als Lauritz unsicher die Hand hob, um anzuklopfen. Der Bediente hieß ihn willkommen, nahm Lauritz’ Reisetasche in Empfang und teilte ihm mit, dass der Herr Baron ihn in einer halben Stunde zum Abendessen in der Küche erwarte. Ländlich einfache Kleidung genüge. Er führte Lauritz eine breite Treppe in den zweiten Stock hinauf und dort einen langen Korridor entlang.
    Das pompöse Gästezimmer war mindestens hundert
Quadratmeter groß. Das Himmelbett stand unter einem hellblauen Baldachin mit Brokatvorhängen aus dunklerem Blau und Silber. Vor einem der hohen Fenster stand ein kleiner, zierlicher Schreibtisch mit geschwungenen Beinen. Lauritz hatte vergessen, wie der Stil genannt wurde.
    Ländlich einfache Kleidung und Abendessen in der Küche? Wie sollte er diesen Bescheid deuten?
    Sverre, der sich mit diesen Dingen bestens auskannte, hatte ihm drei Garnituren Kleider eingepackt. In der einen war er gereist: Jackett, Weste aus silbrig schimmerndem Stoff und mitternachtsblaue Krawatte. Weiterhin hatte er einen Frack im Gepäck, für den Fall eines Diners mit Gästen, aber auch einen englischen Anzug aus Tweed mit einer gestrickten Krawatte für »alltäglichere« Gelegenheiten wie offenbar diese.
    Bedeutete ein Essen in der Küche eine absichtsvolle Degradierung des Gastes, einen Fingerzeig? Zutiefst verunsichert, die Kleidung, die Absichten des Barons und das Essen in der Küche betreffend, stieg er die breiten Kalksteintreppenstufen des Schlosses

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