Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
achttausend norwegischen Kronen, mehr als der Jahresverdienst eines Eisenbahningenieurs bei der Bergenbahn.
Sobald sie ihr Geld hatten, wollten sie nach Hause gehen und kurz die Fräcke ablegen, um für den Abend ein frisches Hemd anzuziehen. Beim Examensbankett wurde ebenfalls Frack getragen.
Ihr Weg war lang gewesen, aber jetzt waren sie am Ziel. Es hätte also für die drei Brüder der glücklichste Tag ihres Lebens sein sollen, und äußerlich war auch nichts Gegenteiliges zu erkennen.
Aber es gab etwas, das Lauritz seinen Brüdern verschwiegen hatte.
Und etwas anderes, das Oscar nicht ausgesprochen hatte.
Und Sverre hatte ebenfalls ein Geheimnis, das er um nichts in der Welt preisgeben wollte.
Oscar saß spätabends, am zweiten Abend nach ihrem Verschwinden, auf der Wache in der Nähe des Hauptbahnhofs in der Südvorstadt, die im Übrigen nicht weit von der Technischen Hochschule entfernt lag.
Er war unrasiert und schwitzte, obwohl es ein milder Maiabend war. Hatte er vor zwei Tagen den glücklichsten Tag seines Lebens erlebt, so war dies sein unglücklichster.
Maria Theresia war definitiv verschwunden. Wie vom
Erdboden verschluckt. Keine Spur, kein Brief, kein Blutfleck, nichts.
Er war zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges nach Berlin auf dem Bahnhof gewesen. Es hätte der erste Schritt in ihr neues, glückliches Leben sein sollen. Endlich war sie frei, auf dem Weg in ein neues Land mit einer neuen Identität. Er war bis über beide Ohren verliebt und hatte das Glück, das ihn erfüllte, kaum fassen können. Sobald sich der Zug in Bewegung setzte, hätte er die mitgebrachte Flasche Champagner geöffnet.
Drei Minuten vor der Abfahrt hatte er sein Gepäck, zwei volle Reisetaschen, aus dem Abteil geholt. Sie musste aufgehalten worden sein, und da konnte er natürlich auch nicht reisen. Es zerrte an seinen Nerven und war ärgerlich, den Zug zu verpassen und am nächsten Tag erneut den Optimismus für die Flucht in eine neue Welt aufbringen zu müssen, eine vielfältigere neue Welt als jene, die der Festredner am Examenstag vorausgesagt hatte.
Sie war nicht gekommen. Die Lokomotive hatte gepfiffen und sich schwerfällig in Bewegung gesetzt.
Er hatte eine Droschke genommen, um das Gepäck zurück nach Hause zu bringen. Dann hatte er sich zu Madame Freuer begeben, um sie zu fragen, ob sie etwas wisse. Das war peinlich, aber unvermeidlich.
Madame Freuer war wie erwartet unfreundlich. Sie glaubte nicht, dass Maria Theresia durchgebrannt war, eher »verreist«. War sie womöglich auf dem Weg zum Bahnhof entführt, überfallen, beraubt worden? Lag sie verletzt im Krankenhaus?
Er hatte versucht, seine Angst und Unruhe beiseitezuschieben, indem er an all die schönen Stunden mit ihr
dachte. Er würde nie mehr eine Frau so lieben, wie er Maria Theresia liebte. Dessen war er sich mit seiner ganzen fünfundzwanzigjährigen Lebenserfahrung gewiss. Es gab keine Frau wie sie, keine war schöner, keine charmanter, geistreicher, fantasievoller … erotischer.
Die Polizei war ihm weder höflich noch professionell begegnet. Zuerst hatte Oscar sich an den Diensthabenden des Dezernats für vermisste Personen gewandt.
Nachdem er dem fetten, uninteressierten und mindestens fünfzig Jahre alten Beamten seine Geschichte erzählt hatte, war er ans Dezernat für Betrugsfälle verwiesen worden. Diese trägen und korrupten Bürokraten wollten einfach nicht den Ernst der Lage erkennen. Und jetzt war er auch noch zum Sittlichkeitsdezernat weitergeschickt worden, als handele es sich um eine ganz normale Bordellangelegenheit!
Ihre Lebensgeschichte war sehr ergreifend. Ihre Mutter war eine spanische Gräfin, von ihr hatte sie die dunklen, fast schwarzen Augen, in denen er sich verlieren konnte, ohne sie vor sich zu haben. Ihr Vater war ein geschiedener Graf aus München, besser gesagt aus der Münchner Umgebung, der ein Schloss auf dem Lande besessen hatte, das seit dem 13. Jahrhundert in Familienbesitz war.
Sie hatten im sonnigen Spanien ganz in der Nähe von Valencia gelebt, inmitten von Orangenhainen, das blaue Mittelmeer am Horizont. Sie hatte mit kleinen weißen Lämmern gespielt, und starke Männer hatten sie in den Sattel gehoben und waren mit ihr über die Besitzungen geritten, auf denen Stiere für Stierkämpfe gezüchtet wurden.
Dann hatte sich das Glück auf einen Schlag in einer gewittrigen Nacht in tiefstes Unglück verwandelt. Ihre Mutter
mit den funkelnden schwarzen Augen hatte in rasender Eifersucht (ihr Verdacht
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