Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
gleichermaßen atemberaubend.
Für gewöhnlich griff sie nach diesem Abschnitt wieder zu ihren Büchern, dieses Mal jedoch nicht. Sie ignorierte die Bücher, die sie in alter Gewohnheit bereitgelegt hatte, und schaute aus dem Fenster. Sie dachte daran, dass sie, wenn man von den Kindern, die doch etwas ganz Besonderes waren, einmal absah, auf dem Weg zu dem dritten großen Ereignis in ihrem Leben war.
Die Momente, in denen die Kinder, die nun alt genug waren, begriffen hatten, dass ihre Mutter sie schon wieder verlassen würde, waren die schwierigsten des vergangenen Jahres gewesen. Es war leichter gewesen, wenn sie sonntagabends den Nachtzug genommen hatte, denn dann hatten sie schon längst geschlafen. War sie erst montagmorgens abgereist, wenn sie bereits wach waren, hatten sie herzerweichend geweint, bis sie sie nicht mehr hatte trösten können, weil sie sonst den Zug verpasst hätte. Die Kindermädchen hatten sie aus ihrer Umarmung reißen und die strampelnden und schreienden Kinder aus dem Zimmer tragen müssen. Wie hatte sie nur so hart sein können?
Diese Zeiten waren jetzt vorbei. Von nun an würde sie
jeden Tag etwas Zeit für die Kinder haben, bis sie das Alter erreichten, in dem andere Dinge interessant wurden. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie etwa acht Jahre alt gewesen, als sie lieber ihre Spielkameradinnen als ihre Mutter getroffen hatte, vermutlich zur Erleichterung ihrer Mutter.
Wann mussten die Kinder eigene Zimmer bekommen? Vielleicht in zwei Jahren, wenn es ohnehin an der Zeit war, den Abstand zum Schlafzimmer ihrer Eltern zu vergrößern. Kinder sollten nachts nicht von der Liebe ihrer Eltern gestört werden.
Lauritz und sie schliefen nackt. Sie hätte nie gewagt, dies ihren Bergener Freundinnen gegenüber zu erwähnen, denn soweit sie sie verstanden hatte, hatten alle anständigen Menschen getrennte Schlafzimmer, und die Männer trugen gestreifte Baumwollschlafanzüge und manchmal sogar weiße Nachtmützen, die Frauen aufwendige Nachthemden in mehreren Schichten übereinander.
Es ärgerte sie, dass es geradezu einen Skandal hervorrufen würde, wenn die Bergener Bürgerschaft wüsste, wie Lauritz und sie ihre Nächte verbrachten.
Ihr hauptsächlicher Umgangskreis bestand aus überaus konservativen Protestanten, faden und affektierten Menschen. Unter den Frauen gab es verblüffenderweise einige, die gegen das Frauenwahlrecht waren. Sie brachten ungefähr dieselben Argumente vor wie ihre Männer, die meinten, das Gehirn der Frau sei nicht für logische Beschlüsse geschaffen.
Dieser Umgang war der Preis für Lauritz’ wohldurchdachte Diplomatie und für seinen Erfolg. Er saß im Vorstand der Theatergesellschaft, der Wohltätigkeitsloge Die
gute Absicht , der Verschönerungskommission der Stadt Bergen und Umgebung, der Finanzgruppe Die nützliche Gesellschaft und einiger weiterer Vereinigungen.
Das war ganz offenbar gut fürs Geschäft. Wenn die Verschönerungskommission den Bau einer neuen Straße in Auftrag gab, deren erste Etappe zwischen Fløyen und Møllendal verlaufen sollte, finanzierte rein zufällig Die nützliche Gesellschaft das große Geschäft. Der Auftrag ging dann, vielleicht nicht ganz so zufällig, an Lauritzen & Haugen.
Der Gewinn überstieg bei Weitem den Preis für dieses Arrangement, das darin bestand, hin und wieder einen Mann zum Tischherrn zu haben, der die Gottlosigkeit der Zeit und den moralischen Verfall der Jugend beklagte. Lauritz musste sich dafür vermutlich mit Damen unterhalten, die nicht für ihr eigenes Wahlrecht waren.
Die Sache war nun jedenfalls entschieden! In diesem Jahr, 1913, führte Norwegen, peinlicherweise noch vor Deutschland, das Frauenwahlrecht ein.
Manchmal saßen sie nach diesen fürchterlich langweiligen Diners eine Weile unter der Palme auf dem s-förmigen Ledersofa und hielten sich an den Händen, ohne viele Worte zu verlieren. Sie hatten nicht das Bedürfnis, sich zu beklagen, und sie ließen sich erstaunlich selten über die Gäste des Abends aus. Lauritz war ein toleranter Mann und sie, was Dummheit und Bigotterie betraf, eine weniger tolerante Frau. Aber sie sah ein, dass es taktisch klug war, diese Art anstrengenden Umgangs zu pflegen.
Ab und zu erholten sie sich mit ihren richtigen Freunden, veranstalteten »Seglerdiners« mit der Besatzung der Ran oder ein »Theaterdiner« mit Leuten vom Theater. Bei solchen erfreulichen Gelegenheiten waren Themen
und Ton dergestalt, dass die feineren Damen der
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