Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Gold. Ein gigantischer Kronleuchter schwebte über dem Parkett.
Seine regelmäßigen Opernbesuche in Dresden waren ein reines Täuschungsmanöver gewesen, für das es eine einfache Erklärung gab. Der Baron hatte ein Abonnement. Eine Loge im ersten Rang. Der erste Rang war mit Ausnahme der Königsloge der sächsischen Oberklasse vorbehalten. Der Baron besuchte jedoch nur die Vorstellungen, die er als kerndeutsch betrachtete, kurz und gut: Wagner.
Nachdem Lauritz seine erste Universitätsmeisterschaft gewonnen hatte, erhielt er als besondere Prämie einen Platz in der Loge des Barons für den Rest der Spielzeit. Der Baron war Ehrenvorsitzender im Velozipedclub der Universität.
Als ihm das Angebot unterbreitet wurde, hatte er anfänglich nicht gewusst, wie er, ohne unhöflich zu wirken, diese
zeitaufwendige Gunst ausschlagen konnte. Er trainierte viel und studierte eifrig. Was die Oper seiner Meinung nach hauptsächlich auszeichnete, war, dass sie ungeheuer viel Zeit verschlang.
Die Eisschicht wurde zunehmend stabiler, er sank nicht mehr so tief ein. Wenn er sich an den Rand des matschigen Transportweges hielt, würde er vielleicht sogar so etwas wie eine Spur zustande bringen. Auch wenn ihm das im Augenblick nicht viel nützte, könnte die Spur eine große Hilfe sein, wenn er am nächsten Tag zurückmusste.
Ein grauenvoller Gedanke, mit dem er sich abfinden musste. Diese kräftezehrende Anstrengung war nur das Ende des ersten Arbeitstages. Morgen würde er wieder dieselben Strapazen durchmachen müssen.
Zurück zur Oper. Was der Baron nicht mitbekam, als er sich beim Siegesbankett über den Tisch beugte, um ihm das großzügige Angebot eines Platzes in seiner Opernloge zu machen, war die Miene seiner Tochter zu seiner Linken. Ingeborg hatte Lauritz eifrig zugenickt und dann rasch in eine andere Richtung geschaut. Und er hatte sich überschwänglich für das Angebot bedankt und es angenommen.
Stand Wagner auf dem Spielplan, saßen auch der Baron und seine Gattin in der Loge. Das erforderte List, Kaltblütigkeit und Diskretion. Eine flüchtige Berührung hier und da, rein zufällig, wenn er Ingeborg zur Pause seinen Arm reichte und sich die Gesellschaft zu den Erfrischungen ins Foyer begab. Sie schob unbeobachtet ihren Fuß an seinen, vorzugsweise während eines dröhnenden Crescendos, das die Aufmerksamkeit ihres Vaters vollkommen gefangen nahm, eine kurze, flüchtige Berührung, bei der ihm das Blut in den Schläfen rauschte.
Wurden französische oder italienische Opern gespielt, erschienen weder der Baron noch seine Gattin. Dann saßen Ingeborg und er ganz hinten in der Loge, so weit wie möglich von der Balustrade entfernt. Dort gaben sie sich zur Ouvertüre der »Diebischen Elster« den ersten Kuss.
Der Baron durchschaute sie viel zu schnell. Jedenfalls ergriff er Vorsichtsmaßnahmen. Ingeborg durfte nur noch mit der Haushälterin oder einer Freundin in die Oper. Die Haushälterin konnte sich jedoch nicht beliebig für die Oper freinehmen. Hatte der Baron Gäste, was häufig der Fall war, wenn er sich in der Stadt aufhielt, war ihre Anwesenheit im Haus erforderlich.
Plötzlich trugen die Skier wieder. Von der Sonne war hinter den hohen Bergen im Westen nur noch ein rotgoldener Streifen zu sehen. Er stellte fest, dass er das Abendessen verpasst hatte. Er hatte einen solchen Hunger, dass ihm fast schon übel war. Die Skier glitten jedoch voran, er hinterließ zwei zehn Zentimeter tiefe Spuren, die nass, aber vollkommen glatt waren. Im Laufe der Nacht würden sie sich in Eisrinnen verwandeln, die zu glatt waren, um bergauf zu kommen, und die zu rasch bergab führten. Jetzt aber kam er besser voran als während der vergangenen Stunden, die er durch den Schneematsch gewatet war.
Sobald er sich nicht mehr in seine Erinnerungen flüchtete, kehrten die Schmerzen in den Oberschenkeln und in der Hüfte zurück. Und, was fast noch schlimmer war, er spürte die Blasen an den Fersen. Er musste sich wieder in seine Dresdner Träume vertiefen.
Sie hatten es so eingerichtet, dass sie sich vor der Vorstellung auf der Augustusbrücke oder am Terrassenufer trafen, um von dort zum Theaterplatz zu spazieren. Ingeborg
hatte mit einer Freundin aus gutem Hause, die nichts für die Oper übrighatte, Pläne geschmiedet. Da der Baron Ersteres, aber nicht Letzteres wusste, setzte er in die Tugendhaftigkeit der Freundin unbegrenztes Vertrauen. Er hatte keine Ahnung, dass sie neben anderen empörenden Ansichten wie Ingeborg
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