Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
Vom Netzwerk:
Befürworterin des allgemeinen Wahlrechts war, das es auch Frauen ermöglichen sollte, an Abstimmungen teilzunehmen.
    Christa entfernte sich diskret aus der Loge, sobald der zweite Akt begann, und kehrte erst vor der nächsten Pause zurück. Sie nahm jene Art von Literatur in die Oper mit, die heimlich gelesen werden musste, und begab sich zu diesem Zwecke auf die Damentoilette. Sie versicherte, dass ihr dieses Arrangement ausgezeichnet passe. Niemand, nicht einmal ihr eigener Vater, der mindestens so streng und verstockt war wie Ingeborgs, hätte sich vorstellen können, dass Christa auf der Damentoilette der Semperoper saß und verbotene Bücher las. Außerdem sei es eine Frage des Prinzips, die Intrige zu unterstützen, erklärte sie. Der modernen Frau, die nun in ein Jahrhundert des Fortschritts eintrete, stehe nicht nur das Stimmrecht zu, sondern ebenso das Recht auf selbstbestimmte Liebe. Auch wenn sie nicht von religiösen Ritualen abgesegnet worden sei.
    Hätte der Baron gewusst, welch skandalöse Auffassungen die vertrauenswürdige Freundin seiner Tochter vertrat, hätte er die Sache rasch beendet. Aber wie hätte er sich etwas so zutiefst Anstößiges im Zusammenhang mit einer so wohlerzogenen Dame vorstellen können? Freundin Christa düpierte ebenso gekonnt wie Ingeborg, wenn es darum ging, ein feines Fräulein aus dem vorhergehenden Jahrhundert zu spielen.
    Lauritz war auf Umwegen zu dem Schluss gekommen, dass er im Unterschied zu seinen Brüdern und den meisten Männern, die er kannte, durchaus Befürworter des Frauenwahlrechts war. Für das Wahlrecht der Fischer und Bauern war er schon immer gewesen. Oder sollten etwa nur dicke Bäckermeister, Droschkenbesitzer, Bankiers und Seilermeister in Bergen wählen dürfen, aber Männer wie sein Vater oder sein Onkel Sverre nicht?
    Das war der erste Schritt einer Argumentationskette, wie sie Aristoteles vorführte. Der zweite Schritt ergab sich zwangsläufig. Wenn alle Bahn-und Tunnelarbeiter, die Johan Svenske unterstanden, diese vortrefflichen Männer, wählen durften, was war dann mit Frauen wie Ingeborg und Christa, die so unendlich viel gebildeter in geistigen Dingen waren? Die Logik war bestechend, aber kein Thema, das er mit anderen Männern diskutieren wollte.
    Es dämmerte, als er Nygård erreichte.
    Als er sich im Vorraum Schnee und Eis von den Stiefeln trat, erschien Estrid und fragte schüchtern und verschreckt wie zuvor, ob etwas geschehen sei.
    Er antwortete ohne Umschweife, dass er ein lausiger Skifahrer sei und dass es viel länger als erwartet gedauert habe, nach Hause zu kommen. Er würde ihr jedoch bis in alle Ewigkeit dankbar sein, wenn es noch etwas zu essen gäbe.
    Estrid nickte wortlos und verschwand in der Küche. Daniel Ellefsen saß offenbar im Büro, denn oben brannte die Petroleumlampe. Er erschien nicht, um Oscar zu begrüßen oder zu fragen, was vorgefallen war, aber das erwartete Lauritz auch gar nicht.
    Wenig später saß er bei Tisch. Eine kräftige Suppe aus Stockfisch und Kartoffeln, gepökeltes und geräuchertes
Rentierfleisch, Fladenbrot, Butter, Ziegenkäse und mit Trockenmilch vermischtes Wasser. Er aß konzentriert und rasch.
    Als er sich mit schmerzenden Oberschenkeln, die Pläne unter dem Arm, die Treppe zum Büro hinaufquälte, sah sein Kollege, der auf einem Zettel neben seinen Plänen Berechnungen anstellte, nur kurz auf und nickte.
    »Offenbar war die Heimfahrt beschwerlich«, sagte er nach einer Weile.
    »Allerdings«, gab Lauritz zu. »Schneematsch fast bis zu den Knien. Im Nachhinein ist man immer klüger. Ich habe blutende Blasen an beiden Fersen.«
    »Desinfektionsalkohol steht im Schrank da drüben. Die weiße Flasche mit dem roten Kreuz drauf. Lüfte die Füße, damit die Blasen trocknen können. Zieh dir saubere und trockene Strümpfe an. Vergiss nicht, den Whisky mitzunehmen, wenn du morgen wieder runterfährst.«
    »Welchen Whisky?«
    Die Eisenbahngesellschaft gab jeder Baracke jeden Samstagabend zwei Flaschen Whisky aus, White Horse, der fassweise geliefert und in den Ingenieursquartieren in Flaschen umgefüllt wurde.

    Der nächste Morgen war anstrengender als alles in seinem Leben zuvor. Obwohl er todmüde gewesen war, hatte er sich am Vorabend dazu gezwungen, noch anderthalb Stunden am Zeichentisch zu sitzen, bis er die Augen beim besten Willen nicht länger offen halten konnte.
    An seinen Schlaf konnte er sich nicht erinnern, nur daran, dass er in dem kalten Schlafzimmer zu Bett gegangen war und die

Weitere Kostenlose Bücher