Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
vermessen. Er erkundigte sich nach dem Wetter, woraufhin Johan Svenske einen hinkenden kleinen Mann herbeirief, der eine Weile in den Himmel schaute und dann sagte, ein Hochdruck sei im Anzug und es werde kälter und klar werden. Lauritz bedankte sich und stellte sich auf seine Skier. Es war erst vier Uhr nachmittags, und er würde wohl rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein.
Bergab auf dem überfrorenen Schnee hatte es eine Stunde gedauert, für den Rückweg kalkulierte er drei Stunden.
Bereits nach einer halben Stunde kamen ihm Zweifel hinsichtlich seiner Einschätzung. Der Schnee war schwer und nass, bot keinen Widerstand und trug nicht. Selbst seine breiten Hickory-Skier sanken dreißig Zentimeter ein. Es war, als wate er durch dicken Brei. Da das Abstoßen besonders beschwerlich war, wurden ausgerechnet jene Muskeln am stärksten beansprucht, die vom Muskelkater des Vortags betroffen waren. Er erwog kurz, zur Arbeiterbaracke zurückzukehren, wo er sicher einen Winkel finden würde, in dem er übernachten konnte.
Aber das war ihm zu peinlich. Ein Ingenieur, noch nicht trocken hinter den Ohren, der nicht wie alle anderen nach dem Arbeitstag auf Skiern nach Hause fahren konnte. Er biss die Zähne zusammen und setzte seinen Weg fort.
Schmerzende Muskeln in Schach zu halten war er gewohnt. Wer die Laktate beim Spurt am besten zu handhaben wusste, gewann. Und er gewann meistens, er war Europameister.
Aber das galt nur, wenn ihm das Publikum zujubelte und applaudierte. Außerdem ein Publikum mit einer Zuschauerin, die ihm mehr bedeutete als alle anderen Menschen auf der Welt. Und mit noch einem Menschen, ihrem Vater, der Lauritz’ Glück und Verderben mehr als alle anderen in der Hand hatte.
Er versuchte sich mit Erinnerungen an Dresden vom Schmerz in seinen Oberschenkeln abzulenken und ließ eine Szene nach der anderen vor seinem inneren Auge Revue passieren.
Das Velodrom. Der eigentümliche Geruch von Gummi,
Öl, Schweiß und Lack. Der rötliche Lack, der eine Oberfläche bildete, die glatt wie Glas war. Die ovale, nach innen geneigte Bahn aus Buchenholz, die Bohlen penibel zugeschnitten und ohne die kleinste Kerbe oder Unebenheit ineinandergefügt.
Er musste stehen bleiben und durchatmen. Erst jetzt begriff er, dass es eine einfache, logische Erklärung für seine Atemnot gab. Er befand sich auf über tausend Meter Höhe, und sein Organismus hatte sich noch nicht angepasst.
Das würde im Laufe der nächsten Tage sicher besser werden, aber diese Einsicht war im Augenblick kein Trost. Er schnallte die Skier ab, wuchtete sie auf die Schulter und kämpfte sich neben dem zukünftigen Bahngleis durch den Schnee aufwärts. Bereits nach wenigen Minuten stellte er fest, dass das eher noch schwieriger war.
Der eisige Nordwestwind ließ den Schneematsch blitzschnell gefrieren. Krachend brach er immer wieder bis zu den Waden durch die obere Schneeschicht. Keine Wolke war am Himmel, die Sonne versank hinter den Gipfeln, und der Weg nach oben verwandelte sich in riesige Spiegelflächen, als das Licht schräg auf die Bergwände fiel. Er kniff die Augen zusammen, denn er hatte nicht vergessen, was Kollege Ellefsen über die Schneeblindheit gesagt hatte.
Die Sächsische Staatsoper, so nannte sie kein Dresdner, obwohl dies der offizielle Name war. Alle sagten Semperoper. Richard Wagner hatte dort dirigiert. Und wie der Architekt der Oper, Gottfried Semper, war auch er aus politischen Gründen des Landes Sachsen verwiesen worden. Sie waren angeblich für die Demokratie gewesen. Das wurde ihnen beiden, insbesondere Wagner, später verziehen. Und der Baron liebte den »Ring« und besonders »Die Walküre«.
Eine gute Art der Ablenkung. Lauritz versuchte, sich den eindrucksvollen »Walkürenritt« zu vergegenwärtigen, der wunderbar in diese Landschaft passte. Jotunheimen war nicht allzu weit entfernt. An Ragnarök, die »Götterdämmerung«, konnte er sich nicht mehr so gut erinnern und wandte sich daher wieder den Walküren zu.
Nein, so ging das nicht. Er musste sich wieder auf die Bretter stellen. Vielleicht hatte die schnell sinkende Temperatur nach den letzten wärmenden Sonnenstrahlen ja zur Folge, dass der Schnee wieder überfror und die Skier nicht mehr einbrachen.
Gold und Elfenbein, der große violette oder, vornehmer ausgedrückt, purpurne Vorhang. Die Farbe, mit der römische Kaiser und Feldherren ihre Umhänge färben ließen, die aus kleinen im Meer lebenden Schnecken gewonnen wurde, die kostbarer war als
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