Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
ausreichend gehalten hatte, nur ihn vom Stand der Dinge zu unterrichten. Er erklärte ihnen, dass sie versuchen sollten zu schlafen, der Angriff erfolge erst nach Sonnenaufgang. Anschließend ging er mit energischen Schritten zu Dr. Ernsts Zelt.
Der Wissenschaftler schlief mit einer Nachtmütze unter einem Moskitonetz. Er war sehr aufgebracht, dass Oscar mitten in der Nacht in seine private Domäne eindrang. Oscar entschuldigte sich mehrfach und wies mit einer Ironie, die auf taube Ohren stieß, darauf hin, dass es schließlich nur um ihrer aller Leben ginge. Er bat Dr. Ernst eindringlich, sich kurz vor Sonnenaufgang auf dem mittleren Güterwagen oben auf dem Bahndamm einzufinden, machte einen Diener, wünschte eine gute Nacht und entschuldigte sich ein weiteres Mal für die Störung. Er habe nur die Absicht gehabt, den momentan vielleicht wichtigsten Wissenschaftler Deutschlands in Afrika zu schützen.
Diese Schmeichelei zeitigte erstaunlicherweise Wirkung. Dr. Ernst strahlte und versprach, »wie befohlen« am angegebenen Ort zu erscheinen.
Wieder auf seinem offenen Güterwagen, deckte sich Oscar mit einer Decke zu, aber eher, um sich vor den Insekten
zu schützen, denn kalt war es nicht. Er dachte noch, dass dieser Tag der fürchterlichste seines Lebens gewesen war, schlimmer noch als jener Tag, an dem sie vom Tod ihres Vaters und Onkel Sverres erfahren hatten. Wider Erwarten schlief er mitten in diesem Gedankengang ein.
Trommeln weckten ihn. Anschließend hörte er, wie die Dornenbuschbarrieren hinter den längst verglühten Feuern beiseitegeschleppt wurden. Er setzte sich auf und kontrollierte sein Mausergewehr. Es war durchgeladen und das Magazin voll. Drei volle Reservemagazine sowie geöffnete Patronenschachteln lagen in Reichweite.
»Hast du nicht gesagt, die Kinandi führten nur Waffen und Schilde mit, Kadimba? Ich höre Trommeln.«
»Kinandi im Krieg setzen auch Trommeln als Waffen ein, Bwana Oscar. Sie glauben, dass sie mit den magischen Kräften des großen Mannes siegen werden und weniger mit ihren Speeren«, murmelte Kadimba.
Oscar gefielen die ungezwungenen Unterhaltungen von Gleich zu Gleich mit Kadimba immer besser. Im nächsten Augenblick rügte er sich für diesen trivialen Gedanken. Er würde an diesem Morgen Menschen töten, was er noch nie zuvor getan hatte. Er hatte sich nicht einmal vorstellen können, dass er dazu überhaupt fähig war. Noch nie hatte er jemanden so sehr gehasst. Die Krieger dort draußen waren Gottes Geschöpfe wie er, theoretisch sogar vom selben Gott geschaffen. Aber laut der reinen evangelischen Lehre würden sie nicht in den Himmel kommen, wenn er sie erschoss, sondern in die Hölle, da sie, statt sich freiwillig von Elise und Joseph bekehren zu lassen, diese zu Tode gefoltert hatten, nachdem sie ihre kleine Tochter vor ihren Augen verspeist hatten.
Er umfasste den Kolben seines Gewehrs fester und spürte, wie der Hass wärmend durch seine Adern pulste.
Weniger als siebzig Meter vor ihm begannen die Kannibalen zu tanzen und zu singen. Er hätte sie mühelos abschießen können, aber das wäre taktisch äußerst unklug gewesen.
Kadimba gab ihm ein unverständliches Zeichen und sprang ein weiteres Mal geschmeidig über die Barrikade. Oscar lauschte, hörte Kadimba aber nicht auf dem Bahndamm landen. Er schaute zu den tanzenden Kriegern und dachte, dass sie vermutlich noch eine Weile weitertanzen würden, um sich in Ekstase zu versetzen, sich Mut zu machen oder was auch immer.
»Ich finde mich laut Befehl hier ein, Herr Diplomingenieur«, verkündete Dr. Ernst und kletterte mit Mühe über die Baumstammbarrikade.
Er trug die offizielle graue Uniform der deutschen Schutztruppe mit seltsamen Rangabzeichen, die ihn als Leutnant auswiesen, sowie einen weißen Tropenhelm. Über seiner Schulter hing ein Gewehr, das Oscar noch nie gesehen hatte. Er hätte nicht gedacht, dass der friedliche Wissenschaftler eine Waffe besaß.
»Was haben Sie für ein Gewehr, Dr. Ernst?«, fragte Oscar.
»Eine Mannlicher-Schönauer, dasselbe Kaliber wie Sie, wie ich sehe, Herr Diplomingenieur«, antwortete der kleine Mann und reckte sich.
»Sehr gut, Herr Doktor. Wären Sie so freundlich, in der Mitte Platz zu nehmen, sodass Sie zum Nachladen an die Munitionsschachteln kommen? Feuern Sie erst nach meinem Befehl.«
»Verstanden!«, sagte Dr. Ernst, kniff die Lippen zusammen und nahm sofort den angewiesenen Platz ein. Er lud sein Gewehr rasch und routiniert.
Gleichzeitig kehrte Kadimba
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