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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Magazin ins Gewehr geschoben hatte und hinter den dicken Mahagonistämmen hervorschaute, war es unheimlich still. Niemand rannte mehr, und die unbeschreibliche Masse aus Toten und Verletzten bewegte sich kaum noch. Er sah sich um. Im Holzboden des
Waggons und in der Barrikade hinter ihm steckten etliche Speere.
    Er befand sich in einer Art fieberhafter Trance. Die Ohren dröhnten ihm von den vielen Schüssen. Ein Durcheinander aus Bildern schwirrte ihm im Kopf herum. Er hatte mit jedem Schuss getroffen, nachgeladen und wieder geschossen. Es war widerwärtig. Er wollte nie mehr aufstehen, nie mehr ein Wort sagen, er wollte einfach überhaupt nichts mehr, nur noch mit geschlossenen Augen still dasitzen. Hier und jetzt war sein Afrika gestorben.
    Plötzlich hörte er wieder, und damit auch das Geschrei der vielen Verwundeten. Er musste sich zusammenreißen.
    »Dr. Ernst!«, brüllte er. »Es gibt Verletzte, kümmern Sie sich um sie.« Schwerfällig erhob er sich, als würde sein Körper Hunderte von Kilo wiegen. Dr. Ernst kletterte unverzüglich von dem Eisenbahnwagen herab und befahl in einem erstaunlich verständlichen Swahili zwei Askaris, ihm zu helfen, die Verletzten ins Arztzelt zu bringen.
    Oscar nahm Kadimba und vier Askaris mit aufs Schlachtfeld. Niemand versuchte mehr zu fliehen. Die Schwerverwundeten erschossen sie mit Kopfschüssen. Einige Leichtverletzte wurden in Fesseln gelegt, unter ihnen zwei mit weißen Straußenfedern. Der mächtige Medizinmann, den Oscars Vollmantelgeschoss als Ersten getroffen hatte, war mausetot. Er war der Mann, der die Kugeln der Weißen in Wasser verwandeln wollte.
    Sie hatten acht Gefangene gemacht, die überleben würden, und etliche, die aller Voraussicht nach sterben würden. Die Anzahl der Toten belief sich auf siebenundachtzig. Sie untersuchten das Lager und fanden Reste einer rituellen Mahlzeit, zwei menschliche Oberschenkelknochen.
    Das ist unmenschlich, dachte Oscar. Und doch sind die Kannibalen Menschen. Vor dem Gott, zu dem Elise und Joseph verzweifelt gebetet haben mussten, bevor sie einen grauenvollen Tod gestorben waren, waren alle gleich. In diesem Augenblick war das ein abstoßender Gedanke. Er schoss einem weiteren schwer verletzten Kannibalen in den Kopf.
    Sie sammelten alle Waffen und Schilde ein, die auf dem Schlachtfeld herumlagen, und stapelten die Toten auf zwei Eisenbahnwagen, von denen sie zuvor die Mahagonistämme abgeladen hatten. Zwei Gefangene, die so schwer verletzt waren, dass Dr. Ernst sie nicht zusammenflicken konnte, wurden vors Lager getragen und ebenfalls erschossen, ehe sie zu ihren Stammesbrüdern auf einen der Leichenwagen geladen wurden.
    Dann stellte sich die Frage, was aus den Überlebenden und Leichtverletzten werden sollte, unter denen sich zwei Straußenfederträger befanden, die als Anführer gelten konnten.
    Dr. Ernst hielt es für das Vernünftigste, sie ebenfalls zu erschießen, obwohl er sich mit ihren Verletzungen abgemüht hatte. Dazu verpflichtete ihn sein hippokratischer Eid, jetzt war er nicht mehr für sie verantwortlich.
    Ein Massenbegräbnis für fast hundert Tote war kaum zu bewältigen. Aber natürlich konnten sie auch nicht beim Basislager liegen bleiben und dort verwesen. Oscar musste die nötigen Beschlüsse fassen.
    Die Beseitigung der Leichen war die einfachste Frage. Man würde sie einige Kilometer die Bahnstrecke entlangtransportieren und dann in einen der noch Wasser führenden Flussarme werfen. Die Krokodile würden sich um den
Rest kümmern. Was ans Ufer trieb, würden Geier, Hyänen, Marabus, Schakale und schließlich Insekten beseitigen.
    Die Toten waren nicht das Problem. Aber was sollten sie mit den Überlebenden tun?
    Kadimba meinte, entscheidend sei, dass keiner der Kinandi-Krieger lebend zu seinem Stamm zurückkehrte. Ihre Medizinmänner hatten einen großen Sieg vorhergesagt. Sie wollten den weißen Mann vernichten und aufessen. Dann aber hatten sich die Zauberkräfte des weißen Mannes als so stark erwiesen, dass kein einziger Kinandi-Krieger überlebt hatte. Das hatte sicher eine beachtliche pädagogische Wirkung auf andere Medizinmänner in spe.
    Kadimba brachte es in brutaler Kürze auf den Punkt. Kein Medizinmann der Kinandi durfte je behaupten können, man müsse nur eine weiße Unschuld essen, damit sich Kugeln in Wasser verwandeln. Folglich mussten die Überlebenden erschossen werden. Sie waren Krieger und hatten den Krieg verloren. Das sei gerecht.
    Oscar graute vor einem solchen Beschluss.

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