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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Kompassrose besaß.
    Obgleich es erst in einigen Stunden dunkel wurde, machte das Schneegestöber sie genauso blind wie Dunkelheit.
    Aber sie waren beide hartnäckig und dachten nicht daran, aufzugeben. Außerdem hatten sie gar keine andere Wahl. Den Weg nach Hause konnten sie mithilfe des Kompasskurses finden, den Luftschacht aber nicht.
    Sie banden sich mit einem Seil zusammen, um sich nicht zu verlieren.
    Auf diese Art krochen sie vielleicht eine Stunde lang dahin. Es ließ sich schwer feststellen, wie viel Zeit vergangen war, und noch schwerer, wie weit sie gekommen waren. Der Sturm ging in einen Orkan über. Bei den kräftigsten Böen konnten sie nicht einmal mehr weiterkriechen, da sie dem Wind eine zu große Angriffsfläche boten und drohten, Hunderte von Metern mitgerissen zu werden. Ab und zu legten sie sich, die Arme vorgestreckt und auf die Ohren gedrückt, ganz flach hin.
    Langsam dämmerte es Lauritz, dass sie in Todesgefahr waren und um ihr Leben kämpften. Riss der Sturm sie über das Eis mit sich, waren sie verloren. Sie hatten keine Schaufel dabei und konnten sich nicht eingraben. Die Temperatur sank, das spürte er an den Wangen, der Wind verdoppelte den Kühleffekt.
    Er hatte dem Tod nie mehr als einen flüchtigen Gedanken gewidmet. Der Tod war etwas, das am Ende des Lebens kam, und zwar in einer sehr fernen Zukunft. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, Sportler, Diplomingenieur mit einem Examen aus Dresden und folglich unsterblich.
    Ingeborg würde ihm nie verzeihen, dachte er in einer Anwandlung von Galgenhumor. Ihr langjähriges Projekt, sich dem Baron zu widersetzen, wäre umsonst gewesen, weil der, den sie heiraten wollte, aus reiner Dummheit auf dem Fjell umgekommen war. Wenn es zumindest eine Steinlawine gewesen wäre oder eine einstürzende Brücke. Aber reine Dummheit! Das war unverzeihlich.
    Gott wollte er in dieses Problem nicht reinziehen, obwohl er schon wieder das Gefühl hatte, dass Gott ihn auslachte. Man sollte Gott nicht mit so selbstsüchtigen Dingen belästigen.
    Bei den schlimmsten Orkanböen lagen sie still und pressten sich wie Flundern auf den Schnee. Sobald sie auch nur ahnten, dass der Wind einen Moment nachließ, um vor dem nächsten Angriff innezuhalten, krochen sie ein paar Meter weiter. Linker Arm, rechtes Knie, linkes Knie, dann die Skier hinterher und das Ganze von vorn.
    Plötzlich ließ die Wucht des Windes nach, obwohl der Lärm derselbe blieb. Sie befanden sich in einem Windschatten: ein Vorrat Grubenbahnschienen unter einer festgezurrten Persenning. Hier konnten sie ihre Skier zurücklassen. Jetzt wussten sie auch, dass sie sich auf dem richtigen Kurs befanden. Auf dem Hinweg waren sie an dem Vorratsplatz vorbeigekommen. Das bedeutete aber auch, dass sie erst die halbe Strecke bewältigt hatten. Aber ohne die Skier hinter sich herziehen zu müssen, würden sie bedeutend schneller vorankommen.
    Hinter dem Schienenstapel konnten sie einen Moment aufstehen und den Rücken strecken. Sie schoben ihre Skier unter die Persenning und die Schienen und traten dann wieder in den Sturm. Er warf sie sofort um.
    Sie krochen den Kompasskurs weiter. Der Wind kam ungewöhnlicherweise aus Südwesten, was auf dem Hinweg zur Tunnelbaustelle von Vorteil gewesen war.
    Nach einer Viertelstunde, vielleicht waren es aber auch zwanzig Minuten oder zehn oder dreißig, wurde die harte, vereiste Schneedecke weicher und gab unter ihnen nach. Sie befanden sich in einer Senke, die sich mit Neuschnee gefüllt hatte, der immer tiefer wurde. Bald konnten sie nicht mehr weiterkriechen, weil sie sonst im Schnee versunken wären. Sie mussten sich aufrichten, so weit wie möglich in den Gegenwind lehnen und durch den Neuschnee
waten, in dem sie bald bis über die Taille verschwanden.
    Der Orkan konnte sie jetzt nicht mehr packen und durch die Luft schleudern, aber es dauerte lange, sich im Tiefschnee vorzuarbeiten. Jetzt hätten sie ihre Skier gebraucht, aber sie konnten nicht umkehren, hätten sie nicht wiedergefunden und wären außerdem vom Kompasskurs abgekommen.
    Es gab nichts zu sagen, auch wenn sie miteinander hätten sprechen können. Sie arbeiteten sich schweigend Meter für Meter voran und begannen zu schwitzen. Blieben sie jetzt stehen, würde der Schweiß auf ihrer Haut zu Eis gefrieren, was auch ihr Tod wäre.
    Lauritz stellte sich vor, wie er in seinem nächsten Brief an Ingeborg diesen gefährlichen Heimweg beschreiben würde. Das war beruhigend. Da er Ingeborg schreiben musste, würde

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