Die Buchmalerin
Spielerisch griff er an einen schmalen Goldring, den er an einem Finger der rechten Hand trug, und drehte ihn.
Der Blick des rothaarigen Schreibers ruhte wie gebannt auf dem Ring. Seine Augen verengten sich. »Herr, unser Weg führt uns durch Köln«, sagte er rasch.
»Wenn ihr etwas in Erfahrung bringt, lasst es mich wissen.«
»Oh, und noch etwas«, der Kardinal wandte seine Aufmerksamkeit jetzt ausschließlich Veit, dem rothaarigen Schreiber, zu. »Mein Diener sagte mir, du hättest angegeben, die Frau sei nicht allein gewesen. Jemand habe ihr geholfen zu entkommen.«
»Ja, Herr«, Veit nickte eifrig. »Ich hätte sie ergreifen können, wenn mir nicht ein Mann einen Karren in den Weg gestoßen hätte und ich gestürzt wäre.«
»Würdest du den Mann wieder erkennen?«
»Ich glaube ja, Herr. Ich habe ihn nicht lange gesehen. Aber das Licht der Fackel fiel auf sein Gesicht. Ich habe während der vergangenen Nacht und auch heute nach ihm Ausschau gehalten, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.« Veit machte eine Geste des Bedauerns.
»Nun, für den Mann gilt das Gleiche wie für die Frau. Falls du ihn siehst oder etwas über ihn herausfindest und es mir meldest, wird es dein Schaden nicht sein.«
Der Kardinal schickte die Männer mit einer Handbewegung fort. Nachdem sie den Kapitelsaal verlassen hatten, erhob er sich aus dem Lehnstuhl und ging zu einem Lesepult, auf dem eine Abschrift von Ovids Metamorphosen lag. Der Abt des Klosters hatte sie ihm zur Verfügung gestellt. Die Abschrift war sehr schön, mit kunstvoll ausgeführten Initialen zu Beginn eines jeden Kapitels. Überhaupt war Enzio, was die Bücher und die Kunstgegenstände betraf, die die Klöster im Norden des Reichs besaßen, angenehm überrascht. Die Wurzel des Landes war barbarisch. Aber es hatte, gedüngt mit den Einflüssen der römischen Kultur, eine schöne Blüte entwickelt.
Metamorphosen, dachte der Kardinal und lächelte. Eine passendere Lektüre hätte der Abt kaum finden können. Ein Junge, der sich als Frau entpuppte. Und diese wiederum hatte den Mord an dem Inquisitor beobachtet. So wie die Schreiber und die Mönche das Aussehen der Frau im Gewand eines Knaben geschildert hatten, waren nämlich der Bursche, der im Kloster Arbeit gesucht hatte, und der vermeintliche Junge, dem Léon begegnet war, dieselbe Person.
Nachdenklich berührte der Kardinal die Kante des Buches. Und wenn der Junge, besser gesagt die Frau doch im Dienst des Staufers stand? Die Idee, ihm eine Frau als Kundschafter hinterherzuschicken, könnte gut dem ungewöhnlichen Geist des Kaisers entsprungen sein. Und zugegeben – weder er selbst noch Léon hatte bisher mit dieser Möglichkeit gerechnet.
Aber andererseits war Léon davon überzeugt, dass die Frau am Morgen nach dem Mord nicht damit gerechnet hatte, ihm über den Weg zu laufen. Der Diener täuschte sich selten in solchen Dingen. Ein Kundschafter wäre nicht unvorbereitet gewesen … Außerdem, wenn die Frau im Dienste Friedrichs stand, warum hatte sie dann den Zorn der Schreiber auf sich gezogen und ihnen die Arbeit weggenommen? War es doch nur Zufall, dass sie in diesem Kloster Unterschlupf gesucht hatte?
Der Kardinal schüttelte ungeduldig den Kopf. Der Zufall erklärte nicht, warum jemand der Frau geholfen hatte zu fliehen. Es war ihr nicht nur gelungen, vom Hof des Klosters zu entkommen. Am Morgen hatte Léon mit einigen Soldaten das Flussufer abgeschritten. Dabei waren sie einem Bauern aus dem nahen Dorf begegnet. Der Mann vermisste sein Boot. Es hatte in dem kleinen Hafen jenseits der Felder, die sich vor dem Kloster erstreckten, an Land gelegen. Die Fußspuren der Frau hatten dorthin geführt.
Enzio wandte sich von dem Stehpult ab und ging zurück zu dem Lehnstuhl, über den er seinen roten pelzbesetzten Mantel geworfen hatte. Bald würde die Glocke läuten, die die Mönche zum Mittagsgebet in die Kirche rief. Es konnte nicht schaden, Frömmigkeit zu zeigen und ein wenig früher als nötig in der Kirche zu sein.
Nachdem er den Mantel umgelegt hatte, verließ er den Kapitelsaal und schritt über den schneebedeckten Hof, wobei er dem einen oder anderen der Mönche, die einen Pfad frei schippten oder Holz oder Eimer voller Wasser zur Küche brachten, freundlich zunickte.
Über der Kirche, die nach Osten mit zwei kleinen Türmen versehen war, stand die Sonne als eine gelbe Scheibe. Tief atmete der Kardinal die kalte, klare Luft ein. Seine Vermutung, dass er verfolgt wurde, hatte sich bestätigt.
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