Die Bücher und das Paradies
wir uns vor, wir sollten den Don Quijote in der Neufassung von Pierre Menard lesen (und der Text von
Menard sei mindestens in dem Maße, wie es Borges
behauptet, anders interpretierbar als der von Cervantes).
Wer noch nie von Cervantes gehört hat, würde eine alles
in allem fesselnde Geschichte lesen, eine Reihe von
heroisch-komischen Abenteuern, deren Reiz das nicht
gerade moderne Kastilisch, in dem sie geschrieben sind,
überdauert. Wer dagegen die ständige Bezugnahme auf
den Text von Cervantes erkennt, wird imstande sein, nicht
nur die Entsprechungen zwischen diesem und dem Text
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von Menard zu erfassen, sondern auch die ständige
unvermeidliche Ironie des letzteren.
Anders als allgemeinere Fälle von Doppelkodierung lädt
intertextuelle Ironie, wenn sie mit den Möglichkeiten einer
doppelten Lektüre spielt, nicht alle Leser zum selben Fest
ein. Sie trifft eine Auswahl und bevorzugt die intertextuell
versierten Leser, aber sie schließt die weniger erfahrenen
nicht aus. Naive Leser werden, wenn der Autor eine
Person ins Spiel bringt, die plötzlich ausruft: » Paris à
nous deux! «, den Verweis auf Balzac nicht erkennen und trotzdem imstande sein, sich für eine Person zu begeistern,
die zu kühner Herausforderung und Draufgängertum neigt.
Informierte Leser dagegen »picken« die Bezugnahme auf
und genießen die Ironie – und dabei meine ich nicht nur
das gebildete Augenzwinkern, das ihnen der Autor
zuwirft, sondern auch den Banalisierungs- oder Verzer-
rungseffekt (wenn das Zitat in einem Kontext steht, der
sich von dem der Quelle kraß unterscheidet) und den
allgemeinen Verweis auf das ununterbrochene Gespräch,
das zwischen den verschiedenen Texten geführt wird.
Wenn wir das Phänomen der intertextuellen Ironie einem
Studenten im ersten Semester erklären müßten oder
jedenfalls einem noch unerfahrenen Leser, so müßten wir
vielleicht sagen, daß ein Text aufgrund dieser Zitat-
strategie zwei Ebenen der Lektüre präsentiert. Wenn wir
jedoch statt eines unerfahrenen Lesers einen Kenner der
Literaturtheorien vor uns hätten, könnten wir durch zwei
mögliche Fragen in Schwierigkeiten gebracht werden.
Erste Frage: Aber hat intertextuelle Ironie nicht
vielleicht damit zu tun, daß man einen Text nicht nur auf
zwei, sondern sogar auf vier verschiedenen Ebenen lesen
kann, nämlich der wörtlichen, der moralischen, der
allegorischen und der anagogischen, wie es die gesamte
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Bibelexegese lehrt und wie es Dante in der Epistola XIII
für sein eigenes dichterisches Werk beansprucht?
Zweite Frage: Aber hat intertextuelle Ironie nicht
vielleicht mit den beiden Modell-Lesern zu tun, von denen
die Textsemiotiker sprechen, allen voran Eco, nämlich
erstens dem sogenannten semantischen Leser und zweitens
dem sogenannten kritischen oder ästhetischen Leser?
Ich werde versuchen zu zeigen, daß es sich um drei
ziemlich verschiedene Phänomene handelt. Aber es ist
keine unnütze Übung, auf diese beiden scheinbar naiven
Fragen zu antworten, denn wir werden dabei sehen, daß
wir es hier mit einem nicht leicht entwirrbaren Knoten von
Verwandtschaftsbeziehungen zu tun haben.
Nehmen wir die erste Frage, also die Theorie der
mehrfachen Sinnschichten eines Textes. Man braucht
nicht an den vierfachen Sinn der Heiligen Schrift zu
denken, es genügt, den moralischen Sinn der Fabeln zu
nehmen: Gewiß kann ein naiver Leser die Fabel vom Wolf
und dem Lamm als den Bericht über einen Streit zwischen
Tieren auffassen, aber auch wenn der Autor sich nicht
beeilen würde, ihm zu sagen, de te fabula narratur , wäre es doch sehr schwer, nicht auch einen gleichnishaften Sinn
zu erkennen, eine allgemeine Lehre, wie sie eben in den
biblischen Gleichnissen vorliegt.
Diese gleichzeitige Präsenz eines wörtlichen und eines
moralischen Sinnes gibt es in der gesamten erzählenden
Literatur, selbst in der, die sich am wenigsten um die
Erziehung des Lesers kümmert, wie gewöhnliche Krimis
aus der Retorte: Selbst aus diesen könnte ein aufmerk-
samer und sensibler Leser eine Reihe moralischer Lehren
ziehen – daß Verbrechen sich nicht lohnt, daß am Ende
alles herauskommt, daß Recht und Gesetz schließlich
siegen, daß die menschliche Vernunft auch die vertrack-
testen Rätsel zu lösen vermag.
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Man könnte sogar sagen, in manchen Werken geht der
moralische Sinn eine derart feste Einheit mit dem
wörtlichen ein, daß sie zusammen einen einzigen Sinn
bilden.
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