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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Aber selbst in einem so offen moralisierenden
    Roman wie den Promessi Sposi bringt die Sorge, der Leser könnte womöglich nur die Geschichte verschlingen und
    die moralische Lehre übersehen, den Autor dazu, hin und
    wieder sentenziöse Präzisierungen einzufügen, damit der
    Verschlinger neogotischer Ritter- und Burgengeschichten
    sich nicht bloß an der Entführung Lucias oder am Tod
    Don Rodrigos ergötzt, sondern auch die Lehre über das
    Walten der Vorsehung beherzigt.
    Wie groß ist die wirkliche Unabhängigkeit der Ebenen,
    wenn sie sich vervielfältigen? Kann man die Divina
    Commedia lesen, wenn man ihre anagogische Botschaft
    nicht erfaßt? Ich würde sagen, genau das hat ein großer
    Teil der romantischen Kritik getan. Kann man die
    Prozession des Purgatoriums lesen, ohne ihre allegorische
    Reichweite zu erfassen? Eine gute surrealistische Lektüre
    könnte es schon. Und was das Paradies betrifft, so ist
    Beatrice lächelnd und strahlend genug, um jeden Leser zu
    verzaubern, auch wenn er nichts von höheren Bedeu-
    tungen weiß, und eine gewisse Kritik, die sich an Kriterien
    der reinen Lyrizität orientierte, hat sogar behauptet, man
    müsse all diese störenden »Höhersinne« als ganz und gar
    sachfremd und abwegig ignorieren.
    Man könnte also sagen, daß diejenigen Ebenen der
    Lektüre, die von den höheren Sinnschichten abhängen, je
    nach Epoche aktiviert oder nicht aktiviert werden können
    und manchmal auch gänzlich unerreichbar bleiben, wie es
    nicht nur bei Texten aus sehr alten Kulturen vorkommt,
    sondern auch bei vieler Malerei aus noch nicht viele
    Jahrhunderte zurückliegender Zeit, zum Beispiel wenn der
    Museumsbesucher, der nicht gerade ein Ikonograph oder
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    Ikonologe ist (und sogar der rein »visibilistische« Kritiker)
    einen Giorgione oder einen Poussin genießt, ohne zu
    wissen, auf welche verborgenen Mythologeme ihre Bilder
    verweisen (doch wir sind überzeugt, daß Panofsky, der sie
    auf beiden Ebenen zu lesen verstand, auf der der Formen
    wie auf der der ikonographischen Verweise, sie sogar
    noch mehr genoß).
    Ganz anders ist die Antwort auf die zweite Frage. Ich
    habe in meinen theoretischen Schriften wiederholt
    dargelegt, daß jeder Text (besonders einer mit ästhetischer
    Zielsetzung, hier also ein narrativer) die Tendenz hat, sich
    einen doppelten Modell-Leser zu erschaffen. Zunächst
    wendet er sich an einen Modell-Leser ersten Grades,
    nennen wir ihn den »semantischen«, der vor allem wissen
    will, und zwar völlig zu Recht, wie die Geschichte ausgeht
    (ob es Kapitän Ahab gelingt, den Weißen Wal zu fangen,
    ob Leopold Bloom und Stephen Dedalus sich begegnen,
    nachdem sie sich am 16. Juni 1904 mehrmals zufällig über
    den Weg gelaufen sind, ob Pinocchio wieder ein richtiger
    Junge aus Fleisch und Bein wird, ob es dem Erzähler
    Marcel gelingt, sein Problem mit der Verlorenen Zeit zu
    lösen). Aber der Text wendet sich auch an einen Modell-
    Leser zweiten Grades, nennen wir ihn den »semiotischen«
    oder »ästhetischen«, der sich fragt, was für eine Art von
    Leser er werden müßte, um der Erzählung voll zu ent-
    sprechen, und der herausfinden möchte, wie der Modell-
    Autor es anstellt, ihm auf Schritt und Tritt die nötigen
    Informationen zu geben. Schlicht gesagt, der Leser ersten
    Grades will wissen, was geschieht, der Leser zweiten
    Grades will wissen, wie das, was geschieht, erzählt
    worden ist. Um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht,
    genügt es in der Regel, sie einmal zu lesen. Um ein Leser
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    zweiten Grades zu werden, muß man sie viele Male lesen,
    und manche Geschichten liest man nie aus.
    Es gibt keine Leser, die ausschließlich Leser zweiten
    Grades sind; im Gegenteil, um ein Leser zweiten Grades
    zu werden, muß man zunächst ein guter Leser ersten
    Grades gewesen sein. Wer beim erstmaligen Lesen der
    Promessi Sposi nicht wenigstens einen kleinen Schauder verspürt, als Lucia sich plötzlich dem Ungenannten
    gegenübersieht, kann die Art, wie Manzonis Roman
    gemacht und beschaffen ist, nicht schätzen lernen. Aber
    zweifellos kann man ein Leser ersten Grades sein, ohne
    jemals zum zweiten Grad zu gelangen – wie es der Fall ist,
    wenn jemand sich gleichermaßen für die Promessi Sposi
    und für Gargantua begeistert, ohne sich bewußt zu
    machen, daß der zweite einen wesentlich reicheren
    Wortschatz hat. Oder umgekehrt, wenn sich jemand, nicht
    zu Unrecht, beim Lesen des Renaissance-Romans
    Hypnerotomachia Poliphili 5 langweilt, weil er

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