Die Bücher und das Paradies
Aber selbst in einem so offen moralisierenden
Roman wie den Promessi Sposi bringt die Sorge, der Leser könnte womöglich nur die Geschichte verschlingen und
die moralische Lehre übersehen, den Autor dazu, hin und
wieder sentenziöse Präzisierungen einzufügen, damit der
Verschlinger neogotischer Ritter- und Burgengeschichten
sich nicht bloß an der Entführung Lucias oder am Tod
Don Rodrigos ergötzt, sondern auch die Lehre über das
Walten der Vorsehung beherzigt.
Wie groß ist die wirkliche Unabhängigkeit der Ebenen,
wenn sie sich vervielfältigen? Kann man die Divina
Commedia lesen, wenn man ihre anagogische Botschaft
nicht erfaßt? Ich würde sagen, genau das hat ein großer
Teil der romantischen Kritik getan. Kann man die
Prozession des Purgatoriums lesen, ohne ihre allegorische
Reichweite zu erfassen? Eine gute surrealistische Lektüre
könnte es schon. Und was das Paradies betrifft, so ist
Beatrice lächelnd und strahlend genug, um jeden Leser zu
verzaubern, auch wenn er nichts von höheren Bedeu-
tungen weiß, und eine gewisse Kritik, die sich an Kriterien
der reinen Lyrizität orientierte, hat sogar behauptet, man
müsse all diese störenden »Höhersinne« als ganz und gar
sachfremd und abwegig ignorieren.
Man könnte also sagen, daß diejenigen Ebenen der
Lektüre, die von den höheren Sinnschichten abhängen, je
nach Epoche aktiviert oder nicht aktiviert werden können
und manchmal auch gänzlich unerreichbar bleiben, wie es
nicht nur bei Texten aus sehr alten Kulturen vorkommt,
sondern auch bei vieler Malerei aus noch nicht viele
Jahrhunderte zurückliegender Zeit, zum Beispiel wenn der
Museumsbesucher, der nicht gerade ein Ikonograph oder
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Ikonologe ist (und sogar der rein »visibilistische« Kritiker)
einen Giorgione oder einen Poussin genießt, ohne zu
wissen, auf welche verborgenen Mythologeme ihre Bilder
verweisen (doch wir sind überzeugt, daß Panofsky, der sie
auf beiden Ebenen zu lesen verstand, auf der der Formen
wie auf der der ikonographischen Verweise, sie sogar
noch mehr genoß).
Ganz anders ist die Antwort auf die zweite Frage. Ich
habe in meinen theoretischen Schriften wiederholt
dargelegt, daß jeder Text (besonders einer mit ästhetischer
Zielsetzung, hier also ein narrativer) die Tendenz hat, sich
einen doppelten Modell-Leser zu erschaffen. Zunächst
wendet er sich an einen Modell-Leser ersten Grades,
nennen wir ihn den »semantischen«, der vor allem wissen
will, und zwar völlig zu Recht, wie die Geschichte ausgeht
(ob es Kapitän Ahab gelingt, den Weißen Wal zu fangen,
ob Leopold Bloom und Stephen Dedalus sich begegnen,
nachdem sie sich am 16. Juni 1904 mehrmals zufällig über
den Weg gelaufen sind, ob Pinocchio wieder ein richtiger
Junge aus Fleisch und Bein wird, ob es dem Erzähler
Marcel gelingt, sein Problem mit der Verlorenen Zeit zu
lösen). Aber der Text wendet sich auch an einen Modell-
Leser zweiten Grades, nennen wir ihn den »semiotischen«
oder »ästhetischen«, der sich fragt, was für eine Art von
Leser er werden müßte, um der Erzählung voll zu ent-
sprechen, und der herausfinden möchte, wie der Modell-
Autor es anstellt, ihm auf Schritt und Tritt die nötigen
Informationen zu geben. Schlicht gesagt, der Leser ersten
Grades will wissen, was geschieht, der Leser zweiten
Grades will wissen, wie das, was geschieht, erzählt
worden ist. Um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht,
genügt es in der Regel, sie einmal zu lesen. Um ein Leser
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zweiten Grades zu werden, muß man sie viele Male lesen,
und manche Geschichten liest man nie aus.
Es gibt keine Leser, die ausschließlich Leser zweiten
Grades sind; im Gegenteil, um ein Leser zweiten Grades
zu werden, muß man zunächst ein guter Leser ersten
Grades gewesen sein. Wer beim erstmaligen Lesen der
Promessi Sposi nicht wenigstens einen kleinen Schauder verspürt, als Lucia sich plötzlich dem Ungenannten
gegenübersieht, kann die Art, wie Manzonis Roman
gemacht und beschaffen ist, nicht schätzen lernen. Aber
zweifellos kann man ein Leser ersten Grades sein, ohne
jemals zum zweiten Grad zu gelangen – wie es der Fall ist,
wenn jemand sich gleichermaßen für die Promessi Sposi
und für Gargantua begeistert, ohne sich bewußt zu
machen, daß der zweite einen wesentlich reicheren
Wortschatz hat. Oder umgekehrt, wenn sich jemand, nicht
zu Unrecht, beim Lesen des Renaissance-Romans
Hypnerotomachia Poliphili 5 langweilt, weil er
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