Die Bücher und das Paradies
einer
idealistischen Ästhetik, die das gesamte Sprachvermögen
von Anfang an in der ästhetischen Kreativität begründet
sah, konnte das dichterische Phänomen nicht mehr als
Abweichung von einer vorgegebenen Norm beschrieben
werden, sondern nur als »auroraler« (morgenrötlicher)
Augenblick. Die wenigen Seiten, die Croce über Aristo-
teles geschrieben hat, bezeugen unausrottbare Vorurteile,
die einen formal unangreifbaren Syllogismus gebären:
(a) Die Ästhetik entsteht mit Baumgarten und seiner Idee
einer scientia cognitionis sensitivae , gnoseologia inferior , (b)
Aristoteles hat Baumgarten nicht lesen können,
(c) ergo hat Aristoteles nichts über die Ästhetik zu sagen.
Ich erinnere mich noch an die Schauder, die ich als
junger Mensch verspürte – wobei ich mich ausgegrenzt
fühlte wie ein kleiner Homosexueller in der
viktorianischen Welt
–, als ich entdeckte, daß die
angelsächsische Tradition während der ganzen Zeit nicht
aufgehört hatte, die aristotelische Poetik ernst zu nehmen.
Es überraschte mich nicht, Spuren von Aristoteles bei
Dryden oder Hobbes, Reynolds oder Samuel Johnson zu
finden, um nicht von den oft unpräzisen und manchmal
polemischen Bezugnahmen auf die Poetik zu sprechen, die ich bei Wordsworth oder Coleridge fand, aber ich war
frappiert, als ich Literaturwissenschaftler und Dichter aus
der Generation von Croce las, die mir das Bild einer
2 Im Orig. deutsch (A. d. Ü.).
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Kultur vermittelten, für welche Aristoteles noch immer ein
Vorbild oder Bezugspunkt war.
Ein Klassiker der amerikanischen Theorie der
Literaturkritik, I. A. Richards’ Principles of Literary
Criticism (1924), beginnt mit einem Verweis auf
Aristoteles; wenn es der Theory of Literature von Wellek und Warren (1942) gelungen ist, die Prinzipien der
angelsächsischen Kritik mit den Forschungen der
russischen Formalisten und der Prager Strukturalisten zu
verschmelzen, dann weil sie sich fast in jedem Kapitel
unter das Zeichen von Aristoteles stellt. In den vierziger
Jahren haben die Meister des New Criticism sich mit
Aristoteles gemessen. Ich entdeckte die Schule von
Chicago, die sich ohne Vorbehalt als neoaristotelisch
definierte, und einen Theoretiker des modernen Theaters
wie Francis Ferguson ( The Idea of Theater , 1949), der die Begriffe plot and action benutzte und den Macbeth unter dem Aspekt der Mimesis einer Handlung analysierte, oder
Northrop Frye, der in seiner Anatomy of Criticism (1957) mit dem aristotelischen Begriff des Mythos spielte.
Doch es würde genügen, den Einfluß der Poetik auf
einen Autor wie Joyce zu nennen. Er erwähnt sie nicht nur
im Paris Notebook von 1903, das er während seiner
Besuche in der Bibliothèque Sainte Geneviève geschrie-
ben hat, sondern er verfaßt auch 1904 ein ironisches
kleines Gedicht über die Katharsis. Er sagt Stuart Gilbert,
daß die Äolus-Episode im Ulysses auf der Rhetorik beruhe. In einem Brief an seinen Bruder Stanislaus vom
9. März 1903 kritisiert er John Millington Synge, weil er
für seinen Geschmack nicht aristotelisch genug sei. In
einem Brief an Ezra Pound vom 9. April 1917 schreibt er
über den Ulysses : »I am doing it, as Aristotle would say –
by different means in different parts.« Und last but not
least ist die Theorie der literarischen Gattungen im
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Portrait eindeutig aristotelischen Ursprungs. Im Portrait entwickelt Stephen Dedalus eine Definition von Furcht
und Mitleid, wobei er bedauert, daß Aristoteles keine in
seiner Poetik gegeben habe, und übersieht, daß er es in seiner Rhetorik getan hat. Dank einer Art von wundertätiger Wahlverwandtschaft sind die Definitionen, die
Joyce erfindet, sehr ähnlich denen in der Rhetorik – doch er studierte bei den Jesuiten, und mit einem Aquinaten aus
zweiter Hand muß ihm auch ein Aristoteles aus dritter
Hand zugewachsen sein. Zu schweigen von dem
englischsprachigen kulturellen Milieu, in dem er lebte und
dessen aristotelische Neigungen wir schon erwähnt haben.
Meine entscheidende aristotelische Erfahrung war je-
doch, glaube ich, Edgar Allan Poes Essay Philosophy of
Composition , in dem er Wort für Wort und Struktur für
Struktur die Entstehung, die Technik und die Motivation
seines berühmten Gedichts The Raven analysiert. In
diesem Essay wird Aristoteles zwar nie erwähnt, aber als
Vorbild ist er allgegenwärtig, auch im Gebrauch einiger
Schlüsselbegriffe.
Poe wollte zeigen, wie der Effekt einer »starken
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