Die Bücher und das Paradies
und
reinen Erhebung der Seele« (die Schönheit) durch eine
entsprechende Strukturierung erreicht wird, und dem
Leser vor Augen führen, wie das Werk »Schritt für Schritt
mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines
mathematischen Problems seiner Vollendung entgegen-
geht«, wenn man auf eine Einheit des Eindrucks (die
materiell die Zeiteinheit eines Leseakts ist), des Themas
und der emotionalen Tonart achtet.
Der Skandal dieses Textes besteht darin, daß sein Autor
die Regeln darlegt, mit deren Hilfe es ihm gelungen ist,
den Eindruck von Spontaneität zu erzeugen, und genau
diese Lehre ist es, die uns auch die Poetik des Aristoteles entgegen jeder Ästhetik des Unsagbaren erteilt. Dieselbe
289
aristotelische Lehre findet sich in dem späthellenistischen
Text Vom Erhabenen des sogenannten Pseudo-Longinos,
der gewöhnlich als eine Verherrlichung des ästhetischen
je-ne-sais-quoi angesehen wird. Der Text will zwar über einen poetischen Effekt sprechen, der sich nicht auf
rationale oder moralische Überzeugung gründet, sondern
auf ein Gefühl des Staunens, das sich als Ekstase und
Blitzschlag äußert. Doch schon auf der ersten Seite erklärt
der Autor, er wolle nicht nur den Gegenstand seiner Rede
definieren, sondern auch sagen, durch welche Mittel dieser
Effekt erzeugt werden kann. Daher folgt im zweiten Teil
eine detaillierte Analyse der rhetorischen Strategien, die
ins Werk gesetzt werden müssen, um durch definierbare
Vorgehensweisen diesen nicht definierbaren Effekt zu
erzielen.
In gleicher Weise geht Poe vor, nur ist seine Philosophy
of Composition ein ebenso faszinierender wie mehr-
deutiger Text: Handelt es sich um Anweisungen für andere
Dichter oder um eine implizite Theorie der Kunst im
allgemeinen, extrapoliert aus einer persönlichen Schreib-
erfahrung durch einen Autor, der sich als kritischer Leser
seines eigenen Werks betätigt?
Die fruchtbare Ambiguität dieses Textes hat Kenneth
Burke bemerkt, der Poes Essay von Anfang an in explizit
aristotelischen Begriffen angeht.3 Wenn es darin eine
Disziplin namens Poetik gibt, dann hat sie nichts zu tun
mit einer Kritik, die als kommerzieller Ratschlag für den
Leser oder als Verteilung von Lob und Tadel verstanden
wird. Sie muß sich mit einer der Dimensionen von
3 »Poetics in Particular, Language in General«, in Poetry , 1961, sowie in Language as Symbolic Action , Berkeley, Univ. of California Press, 1966.
290
Sprache befassen, und in diesem Sinne ist sie der eigent-
liche Gegenstand des Kritikers, so wie Dichtung der
Gegenstand des Dichters ist. »Eine Annäherung an
Dichtung in Begriffen von Poetik ist eine Annäherung in
Begriffen der Natur jener Dichtung als Gattung (eine
Spezies und literarische Form).«
In diesem Sinne nähert sich Burkes Definition der-
jenigen der Prager Schule, für die Poetik die Disziplin ist,
welche die »Literarizität« der Literatur erklärt, das heißt
die Frage, warum ein literarisches Werk als solches
bezeichnet werden kann.
Burke weiß sehr wohl, daß der Versuch, literarische
Vorgehensweisen und Regeln zu definieren, wie
geschehen dazu führen kann, eine deskriptive Wissen-
schaft in eine normative zu verwandeln. Dennoch kann die
Poetik sich nicht der Pflicht entziehen, Anleitungen oder
Gebote zu formulieren, die in der Praxis des Dichters
implizit sind, auch wenn er sich ihrer nicht bewußt ist.
Poe war sich ihrer durchaus bewußt, und folglich
arbeitete er als philosophus additus artifici . Vielleicht hat er sie sich erst nachträglich klargemacht und beim
Schreiben noch nicht gewußt, was er tat, aber als Leser
seiner selbst hat er dann begriffen, warum sein Gedicht
The Raven den Effekt produziert, den es produziert, und warum wir es schön finden. Die Analyse, die der Autor
Poe macht, hätte ein Leser wie Roman Jakobson machen
können. Indem er eine Schreibpraxis zu definieren ver-
sucht, für die ihm sein eigenes Gedicht als Beispiel dient,
hat Poe Strategien beschrieben, die das künstlerische
Schaffen im allgemeinen charakterisieren.
Poes Essay ist aristotelisch in seinen Ausgangs-
prinzipien, in seinen Zielen, in seinen Ergebnissen und in
seiner Ambiguität. Lubomir Doležel hat sich die Frage
gestellt, ob die aristotelische Poetik ein Werk der Kritik ist 291
(das auf Bewertung des Werks zielt, über das sie spricht)
oder eines der Poetik, das wie gesagt darauf abzielt, die
Bedingungen der Literarizität zu
Weitere Kostenlose Bücher