Die Bücher und das Paradies
amerikanische Kultur ein bißchen so, wie man die Jahrhunderte der Vergangenheit
studiert, die elisabethanischen Dramen oder die Dichtung des Stil-nuovo.
Verfasser dieses Artikels war Cesare Pavese, damals
schon ein bekannter Autor, Übersetzer von Melville und
anderen amerikanischen Schriftstellern, Mitglied der
Kommunistischen Partei. 1953, zur Einführung der gesam-
melten Schriften Paveses, der sich 1950 das Leben ge-
nommen hatte, beschrieb Italo Calvino, damals ebenfalls
Mitglied der Kommunistischen Partei (die er während der
Ungarnkrise verließ), die Gefühle der linken Intelligenzia
gegenüber den Vereinigten Staaten folgendermaßen:
Amerika. In Zeiten des Mißvergnügens entsteht oft der
literarische Mythos eines Landes, das als Vergleichsmodell
vorgestellt wird, ein Germanien, geschildert von einem Tacitus oder einer Madame de Staël. Oft ist das so entdeckte Land nur eine Terra utopia, eine gesellschaftliche Allegorie, die mit dem real existierenden Land allenfalls ein paar Daten gemeinsam hat; aber deswegen ist es nicht weniger dienlich, im Gegenteil, die
hervortretenden Elemente sind genau diejenigen, die in der
aktuellen Lage gebraucht werden … Und wirklich, dieses Amerika der Literaten, hitzig vom Blut verschiedener Völker, rauchig von Schloten und reich an fruchtbaren Feldern, rebellisch gegen die kirchlichen Heucheleien, lärmend von Streiks und von
kämpfenden Massen, wurde zu einem umfassenden Symbol für
alle Fermente und alle Realitäten der Moderne, ein Gemisch aus Amerika, Rußland und Italien, dazu ein Geschmack von
urwüchsigen Ländern – eine ungeordnete Synthese all dessen, was der Faschismus negieren und ausschließen wollte.
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Wie konnte es dazu kommen, daß dieses ambivalente
Symbol beziehungsweise diese widersprüchliche Kultur
eine intellektuelle Generation zu faszinieren vermochte,
die in der Zeit des Faschismus aufgewachsen war, als
Schule und Propaganda allein die Ruhmestaten der Römer
feierten und die sogenannten jüdischen Plutokratien
verdammten? Wie konnte es dazu kommen, daß sich die
junge Generation in den dreißiger und vierziger Jahren
unter- und oberhalb der offiziellen Modelle eine Art
Alternativkultur schuf, eine eigene Propagandaströmung
gegen die des Regimes? Dieser zweite Tag unseres
Symposiums ist dem »Bild der Vereinigten Staaten in der
italienischen Erziehung« gewidmet. Versteht man unter
Erziehung die offiziellen Lehrpläne der Schulen, so wüßte
ich nicht, warum uns das Thema interessieren sollte. Die
italienischen Schüler müßten wissen, daß New York an
der Ostküste liegt und daß Oklahoma ein Staat ist und
nicht nur ein Musical von Roger und Hammerstein. Ver-
steht man unter Erziehung jedoch das, was die Griechen
paideia nannten, dann kann unser Unternehmen spannender werden. Paideia ist nicht nur eine Vermittlung von Wissen, sie war das Ensemble der sozialen Techniken,
durch welche die Jugendlichen gemäß einem Ideal von
menschlicher Bildung in das Erwachsenenleben eingeführt
wurden. Die paideia zu verwirklichen hieß, eine reife Person zu werden, ein anthropos kalokagathos , ein
schöner und guter Mensch, schön, weil gut, und gut, weil
schön. Die Lateiner haben paideia mit humanitas übersetzt, die Deutschen übersetzen sie, glaube ich, mit
Bildung , was mehr ist als bloß Kultur.
In der Antike wurde die paideia durch das
philosophische Gespräch und die homosexuelle Beziehung
vermittelt. In der Neuzeit hat man dafür Schulbücher und
Unterrichtsstunden. Aber in unserer neuesten Zeit ist die
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paideia auch eine Angelegenheit der Massenkommuni-
kation geworden. Nicht nur in dem Sinne, daß auch die
Zirkulation der Bücher ein Phänomen der Massenkom-
munikation ist, sondern auch, weil die Wahl eines
persönlichen Leitfadens im chaotischen Angebot der
Massenmedien einen wichtigen Schritt zum Erwerb einer
eigenen humanitas darstellen kann. Soll heißen, daß Woody Allen etwas mit der paideia zu tun hat, was für John Travolta nicht unbedingt gilt, aber seien wir nicht zu
streng. Wenn ich an meine eigene Humanbildung denke,
müßte ich auf die Liste meiner geistigen Quellen die
Imitatio Christi und No no Nanette , Dostojewski und Donald Duck setzen. Fehlen würden dagegen, zum
Beispiel, Nietzsche und Elvis Presley. Ich stimme Joyce
zu, daß »music hall, not poetry, is a criticism of life«.
Ripeness is all.
Auf dem Hintergrund dieser Idee von Erziehung möchte
ich nun in
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