Die Bücher und das Paradies
Fanatiker entzündeten
und sich dabei in etwas anderes verwandelten.
Dennoch hatte jede dieser Fiktionen einen Vorteil: Sie
klang als Erzählung wahrscheinlich, jedenfalls wahr-
scheinlicher als die historische oder alltägliche Realität,
die sehr viel komplexer und unglaubwürdiger klingt; sie
schien etwas gut zu erklären, was sonst schwer zu
verstehen war.
Nehmen wir noch einmal die Fiktion des Ptolemäus.
Heute wissen wir, daß die ptolemäische Hypothese falsch
war. Doch wenn unser Verstand inzwischen auch
kopernikanisch ist, unsere Wahrnehmung ist immer noch
ptolemäisch: Wir sehen nicht nur die Sonne im Osten
aufgehen und während des Tages über den Himmel
wandern, sondern wir verhalten uns auch so, als ob die
Sonne sich um die Erde drehte und wir stillstünden. Und
wir sagen: »Die Sonne geht auf, steht hoch am Himmel,
sinkt und geht unter …« So ptolemäisch spricht, denkt und
fühlt auch ein Astronomieprofessor.
Warum sollte man die Fiktion der Konstantinischen
Schenkung verwerfen? Sie gewährleistete einen Fort-
bestand der Macht nach dem Zusammenbruch des
Römischen Reiches, sie perpetuierte eine Idee der
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Latinität, sie gab eine Führung an, einen Bezugspunkt
zwischen den rauchenden Trümmern der Massaker, die
von den vielen Bewerbern um das Erbe Europas
angerichtet worden waren …
Warum sollte man die Fiktion des Kosmas verwerfen? In
anderer Hinsicht war er ein aufmerksamer Reisender
gewesen, ein sorgfältiger Sammler geographischer und
historischer Kuriositäten, und außerdem konnte seine
Theorie der flachen Erde – zumindest aus erzählerischer
Sicht – eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen.
Die Erde war ein großes Rechteck, begrenzt von vier
riesigen Wänden, die zwei übereinandergeschichtete
Himmelsgewölbe stützten: Am ersten glänzten die Sterne,
und darüber, im Zwischenraum, lebten die seligen Geister.
Die astronomischen Phänomene erklärten sich durch die
Präsenz eines hohen Berges im Norden, der die Nacht
erzeugte, indem er die Sonne verdeckte, und der die
Eklipsen hervorrief, indem er sich zwischen Sonne und
Licht schob …
Sogar Cyrus R. Teeds Theorie der Hohlwelt war für die
Mathematiker des 19. Jahrhunderts schwer zu widerlegen,
denn es ist möglich, die konvexe Oberfläche der Erde auf
eine konkave Fläche zu projizieren, ohne daß allzu viele
Diskrepanzen bemerkbar sind.
Warum sollte man die Fiktion der Rosenkreuzer
verwerfen, wenn sie einer Erwartung religiöser Eintracht
entgegenkam? Und warum die Fiktion der »Protokolle«
verwerfen, wenn sie so viele historische Ereignisse durch
den Mythos der Konspiration erklären konnte? Wie Karl
Popper in Erinnerung gerufen hat: »Die Konspirations-
theorie der Gesellschaft … ähnelt Homers Theorie der
Gesellschaft. Homer konzipierte die Macht der Götter so,
daß alles, was in der Ebene von Troja geschah, nur einen
Reflex der diversen Verschwörungen auf dem Olymp
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darstellte. Die Konspirationstheorie der Gesellschaft …
kommt aus der Abkehr von Gott und aus der Frage: ›Wer
ist an seine Stelle getreten?‹ An seine Stelle werden dann
verschiedene mächtige Personen und Gruppen gesetzt –
sinistre pressure groups, denen man vorwerfen kann, die
große Depression geplant zu haben und alle Übel, unter
denen wir leiden.«17
Warum sollte man den Glauben an Konspiration und
Komplott für absurd halten, wenn er noch heute dazu
benutzt wird, das Scheitern des eigenen Handelns zu
erklären oder die Tatsache, daß die Dinge sich anders
entwickelt haben, als man es gewollt hatte?
Auch Fiktionen sind in erster Linie Erzählungen, wie
immer auch falsche, und Erzählungen sind, wie die
Mythen, stets überzeugend. Und von wie vielen anderen
falschen Erzählungen könnte man sprechen
… Zum
Beispiel vom Mythos der Terra Australis , diesem
immensen Kontinent, der sich über die ganze antarktische
Polkappe und deren subtropische Zone erstrecken sollte.
Der feste Glaube an die Existenz dieses Kontinents
(bekräftigt durch zahllose Weltkarten, die den Globus im
Süden von diesem breiten Erdgürtel bedeckt zeigten) hat
Seefahrer mindestens dreier Jahrhunderte und diverser
Länder zur Erkundung der südlichen Meere und sogar der
Antarktis getrieben.
Was soll man von den Ideen des Eldorado und des
Brunnens ewiger Jugend sagen, die unbedachte und
couragierte Helden zur Erforschung beider Amerikas
getrieben haben? Was von dem Anstoß, den
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