Die Bücher und das Paradies
die
entstehende Chemie durch die Halluzinationen über das
Phantasma des Steins der Weisen erhalten hat? Was von
17 Conjectures and Refutations , 4.
365
der Fiktion des Phlogistons oder von der des kosmischen
Äthers?
Vergessen wir für einen Moment, daß einige dieser
falschen Erzählungen positive Effekte, andere Schrecken
und Schande erzeugt haben. Alle haben etwas bewirkt, im
Guten wie im Bösen. Nichts ist unerklärlich an ihrem
Erfolg. Problematisch ist eher die Antwort auf die Frage,
wie es uns gelungen ist, sie durch andere Erzählungen zu
ersetzen, die wir heute für wahr halten. In einem Essay
über Fälschungen und Nachahmungen bin ich vor einigen
Jahren zu dem Schluß gekommen, daß es zwar Mittel und
Wege gibt, empirische wie solche der Mutmaßung, um zu
prüfen, ob ein Objekt echt oder falsch ist, daß aber jede
Entscheidung darüber den Glauben voraussetzt, daß es ein
echtes und wahres Original gibt, mit dem man die
Fälschung vergleichen kann. Das wahre Erkenntnis-
problem liegt somit nicht in der Prüfung, ob etwas falsch
ist, sondern im Nachweis, daß das als echt geltende Objekt
auch tatsächlich echt ist.
Diese so selbstverständlich klingende Überlegung darf
uns indessen nicht zu dem Schluß verleiten, es gebe kein
Kriterium der Wahrheit und als falsch entlarvte Erzäh-
lungen seien gleichwertig mit solchen, die wir heute für
wahr halten, da beide zur literarischen Gattung der narra-
tiven Fiktion gehörten. Es gibt eine Praxis der Veri-
fizierung, die sich auf die geduldige, kollektive und öffent-
liche Arbeit dessen gründet, was Charles Sanders Peirce
die Community nannte. Und kraft des menschlichen Glaubens an diese Gemeinschaft können wir mit einer
gewissen Ruhe sagen, daß die Donatio Constantini eine Fälschung war, daß die Erde sich um die Sonne dreht und
Sankt Thomas zumindest wußte, daß sie rund ist.
Allenfalls muß die Erkenntnis, daß unsere Geschichte
von vielen Erzählungen bewegt worden ist, die wir heute
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als falsch erachten, uns wachsam machen und befähigen,
unermüdlich gerade diejenigen Erzählungen in Frage zu
stellen, die wir heute für wahr halten, denn das Kriterium
der Weisheit einer Gemeinschaft beruht auf der ständigen
Wachsamkeit gegenüber der Fehlbarkeit unseres Wissens.
Vor ein paar Jahren erschien in Frankreich ein Buch des
Philosophen Jean-François Gautier mit dem Titel
L’unwers existe-til? 18 Gibt es das Universum? Gute Frage.
Was, wenn das Universum nur eine Einbildung wäre, so
wie der kosmische Äther, das Phlogiston oder die
Verschwörung der Weisen von Zion?
Gautiers Argumentation war philosophisch wohlfundiert.
Die Idee des Universums, als Totalität des Kosmos,
kommt aus den ältesten Kosmographien, Kosmologien
und Kosmogonien. Aber kann man etwas beschreiben, als
ob man es von außen sähe, wenn wir selbst darin
enthalten, selber ein Teil davon sind und es nicht verlassen
können? Kann man das Universum geometrisch be-
schreiben, wenn es keinen Raum außerhalb von ihm gibt,
in den man es projizieren kann? Kann man von einem
Anfang des Universums sprechen, wenn ein zeitlicher
Begriff wie der des Anfangs sich auf das Parameter einer
Uhr beziehen muß, während das Universum höchstens die
Uhr seiner selbst ist und sich auf nichts beziehen läßt, was
außer ihm liegt? Kann man mit Eddington sagen, »rund
hundert Milliarden Sterne konstituieren eine Galaxie; rund
hundert Milliarden Galaxien konstituieren das Univer-
sum«, wenn, wie Gautier bemerkt, eine Galaxie ein
beobachtbares Objekt ist, das Universum aber nicht, so
daß man eine unerlaubte Analogie zwischen zwei in-
kommensurablen Größen herstellt? Kann man das Uni-
18 Arles, Actes Sud, 1994.
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versum postulieren und dieses Postulat dann mit
empirischen Mitteln untersuchen, als wäre es ein Objekt?
Kann ein singuläres Objekt existieren (zweifellos das
singulärste von allen), dessen Charakteristikum darin
besteht, nur ein Gesetz zu sein? Und wenn die Geschichte
des Urknalls bloß eine ebenso phantasievolle Erzählung
wäre wie die der Gnosis, nach welcher das Universum aus
dem Lapsus eines ungeschickten Demiurgen entstanden
ist?
Genau besehen wiederholt diese Kritik der Vorstellung
vom Universum Kants Kritik der Vorstellung von der
Welt.
Wenn man bedenkt, daß jemandem der Verdacht, die
Sonne drehe sich nicht um die Erde, in einem bestimmten
Moment der Geschichte ebenso verrückt und
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