Die Bücher und das Paradies
Witte unterschoben hat.
Ratschkowski, ein glühender Antisemit –
dies alles
geschah zur Zeit der Affäre Dreyfus –, nimmt diesen Text,
streicht darin jeden Hinweis auf Witte und unterschiebt die
Witte unterschobenen Weltverschwörungsideen kurzer-
hand den Juden. Man kann nicht Cyon oder gar Zion
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heißen, ohne den Gedanken an ein jüdisches Komplott
heraufzubeschwören.
Der so von Ratschkowski hergerichtete Text war
vermutlich die erste Quelle der berüchtigten Protokolle
der Weisen von Zion . Daß diese »Protokolle« fiktiv waren, lag auf der Hand, da es außer in einem Roman von Sue
wenig glaubhaft ist, daß die »Bösen« ihre ruchlosen Pläne
so offen und schamlos ausbreiten. Erklären diese
»Weisen« doch unverhüllt, sie hätten »einen grenzenlosen
Ehrgeiz, eine verzehrende Habgier, einen erbarmungs-
losen Rachedurst und einen glühenden Haß«. Sie wollen
die Pressefreiheit abschaffen, aber sie ermuntern das
Freidenkertum. Sie kritisieren den Liberalismus, unter-
stützen jedoch den Gedanken der multinationalen Kon-
zerne. Sie propagieren die Revolution in allen Ländern,
aber um zur Rebellion anzustacheln, wollen sie die
Ungleichheit verschärfen. Sie sind für den Bau von
U-Bahnen, um die Großstädte unterminieren zu können.
Sie wollen das Studium der Klassiker und der antiken
Geschichte abschaffen, sie wollen den Sport und die
visuelle Kommunikation fördern, um die Arbeiterklasse zu
verdummen, und so weiter.
Es war leicht, in den »Protokollen« einen Text zu
erkennen, der im Frankreich des Fin de siècle entstanden
sein mußte, denn es wimmelt darin von Bezugnahmen auf
Probleme der französischen Gesellschaft jener Zeit, aber
es war auch leicht, unter den Quellen viele sehr populäre
Romane zu erkennen. Unglücklicherweise war jedoch die
Geschichte – auch hier wieder – erzählerisch so über-
zeugend, daß es den Leuten nicht schwerfiel, sie ernst zu
nehmen.
Der Rest dieser Geschichte ist Geschichte. Ein
wandernder russischer Mönch namens Sergej Nilus, der
»rasputinsche« Ambitionen hatte und von der fixen Idee
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des Antichrist besessen war, veröffentlichte und
kommentierte die »Protokolle«. Wonach sie durch Europa
wanderten, bis sie in die Hände von Adolf Hitler
fielen …11
Wir haben hier einige falsche Ansichten untersucht, die
Epoche gemacht haben und allen mehr oder weniger
bekannt sind. Aber es gibt noch andere delirante Ideen, die
weitgehend in Vergessenheit geraten sind.
So wurde zum Beispiel seit 1925 in national-
sozialistischen Kreisen die sogenannte Welteislehre,
abgekürzt WEL, des österreichischen Pseudowissen-
schaftlers Hans Hörbiger verbreitet. Sie erfreute sich der
Gunst von Männern wie Rosenberg und Himmler. Aber
nach Hitlers Machtergreifung wurde Hörbiger auch in
einigen wissenschaftlichen Kreisen ernst genommen, zum
Beispiel von einem Physiker wie Philipp Lenard, der
zusammen mit Röntgen die nach diesem benannten
Strahlen entdeckt hatte.
11 Ich weiß sehr wohl, daß ich diese Geschichte zuerst im
Foucaultschen Pendel und dann in meinen Harvard-Vorlesungen aufgegriffen habe. Aber es ist immer gut, sie zu wiederholen, und es wird leider nie genügen. Wie jedesmal verdanke ich die
Fakten – außer einigen persönlichen Ausflügen in die Welt des
französischen Feuilleton-Romans – zum großen Teil dem Buch
von Norman Cohen, Warrant for Genocide: The Myth of the
Jewish World-Conspiracy and the Protocols of the Elders of Zion , New York, Harper and Row, 1967 [dt. Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung , übers.
von Karl Römer, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1969] sowie jenem unerschöpflichen Reservoir antisemitischer Argumente, das Nesta Websters Secret Societies and Subversive Movements (London, Boswell, 1924) darstellt.
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Gemäß dieser Welteislehre (die bereits 1913 von Philipp
Fauth dargelegt worden war12) ist das Universum der
Schauplatz eines ewigen Kampfes zwischen Eis und
Feuer, der keine Evolution hervorbringt, sondern einen
ständigen Wechsel von Zyklen oder Epochen. Einst gab es
einen riesigen glühenden Körper, millionenmal größer als
die Sonne, der mit einer riesigen Zusammenballung von
kosmischem Eis kollidierte. Die Eismasse war in den
glühenden Körper eingedrungen, und nachdem sie in
seinem Innern Hunderte von Millionen Jahre lang als
Dampf gewirkt und gearbeitet hatte, war das Ganze
explodiert. Von den
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