Die Bücher und das Paradies
Vernunft gleich. Für die Griechen war das Grie-
chische die Sprache schlechthin. Alle anderen Menschen 112
waren Barbaren, das heißt Leute, die unverständliches
Zeug stammelten.
Der Fall des Römischen Reiches markierte den Anfang
einer Periode sprachlicher und politischer Teilung. Das
Latein verwilderte. Die Barbaren mit ihren Sprachen und
Gebräuchen strömten herein. Die Hälfte der römischen
Besitzungen ging an die Griechen des Ostreichs. In Teilen
Europas und im ganzen Mittelmeerraum begann man
Arabisch zu sprechen. An der Schwelle des neuen
Jahrtausends bildeten sich jene Nationalsprachen, die wir
noch heute auf diesem Kontinent sprechen.
Genau in diesem historischen Augenblick begann nun
die christliche Kultur, die biblische Geschichte von der
Sprachverwirrung nach dem Fall des Turms zu Babel neu
zu lesen. Erst in diesen Jahrhunderten fing man an, von
der Wiederentdeckung oder Neuerfindung einer vor-
babelschen Sprache zu träumen, einer gemeinsamen
Sprache der ganzen Menschheit, die fähig sein müßte, das
Wesen der Dinge durch eine Art von angeborener Homo-
logie zwischen Dingen und Worten auszudrücken. Die so
bestimmte Suche nach einem universalen Kommuni-
kationssystem ist seither und bis heute in verschiedenen
Formen betrieben worden
– manche haben versucht,
zeitlich zurückzugehen, um die Sprache wiederzufinden,
die Adam mit Gott gesprochen hat, andere sind vorwärts
gegangen im Versuch, eine Sprache der Vernunft zu
konstruieren, ausgestattet mit jener verlorenen Vollkom-
menheit, die Adams Sprache gehabt haben mußte. Man hat
versucht, Vicos Ideal zu folgen und eine allen Völkern
gemeinsame Sprache des Geistes zu finden. Internationale
sogenannte »Welthilfssprachen« wie das Esperanto wur-
den erfunden, und man arbeitet noch an der Konstruktion
einer language of mind , die Menschen und Computern
gemeinsam sein soll …
113
Gleichwohl hat es im Laufe dieser Suche auch Fälle
gegeben, in denen jemand behauptete, die einzige wahr-
haft vollkommene Sprache sei die von ihm und seinen
Landsleuten gesprochene. So hat Georg Philipp Hars-
dörffer im 17. Jahrhundert behauptet, Adam habe nicht
anders als deutsch sprechen können, da nur im Deutschen
die Wörter das Wesen der Dinge vollendet zum Ausdruck
brächten (später sollte Heidegger sagen, man könne nur
auf deutsch philosophieren – und sonst allenfalls noch auf
griechisch). Für Antoine de Rivarol ( Discours sur
l’universalité de la langue française , 1784) war das
Französische die einzige Sprache, in der die syntaktische
Struktur der Sätze die authentische Struktur der mensch-
lichen Vernunft widerspiegele, und darum sei es die
einzige logische Sprache der Welt (das Deutsche sei zu
kehlig, das Italienische zu süß, das Spanische zu redun-
dant, das Englische zu dunkel).
Bekanntlich ist Joyce in diesem College zu einem
Verehrer Dantes geworden und dann sein Leben lang auch
geblieben. Zwar bezieht er sich, wenn er von Dante
spricht, immer nur auf die Divina Commedia , aber es gibt gute Gründe zu glauben, daß er auch eine gewisse
Vertrautheit mit Dantes Ideen über die Ursprünge der
Sprache hatte sowie mit seinem Projekt, eine neue, in sich
vollkommene poetische Sprache zu erschaffen, wie Dante
selbst es in seiner Abhandlung De vulgari eloquentia
ausgedrückt hat. Auf jeden Fall muß Joyce in der
Commedia deutliche Hinweise auf dieses Thema und im
26. Gesang des Paradiso auch eine neue Version der alten Debatte über das Thema der adamitischen Sprache
gefunden haben.
Die Schrift De vulgari eloquentia ist zwischen 1303 und 1305 verfaßt worden, also vor der Commedia . Obwohl sie 114
wie eine gelehrte Abhandlung daherkommt, ist sie in
Wirklichkeit ein Selbstkommentar, in dem der Autor
tendenziell seine Methoden der künstlerischen Produktion
analysiert, die er unausgesprochen mit dem Modell jedes
poetischen Diskurses gleichsetzt.
Nach Dante hatte es vor der Pluralität der Volks-
sprachen, also vor der Sünde von Babel, eine voll-
kommene Sprache gegeben, in welcher Adam mit Gott
gesprochen hatte und in der auch Adams Nachkommen
miteinander sprachen. Nach der babylonischen Ver-
wirrung hatten sich die Sprachen vervielfacht, zuerst in
den verschiedenen Teilen der Welt, dann innerhalb jener
Zone, die wir heute die Romania nennen, durch Aufteilung
in eine Sprache des sì , eine Sprache des oc und eine Sprache des oïl . Die Sprache des sì , das Italienische,
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