Die Bücher und das Paradies
regelmäßigen langen Abständen
wie aus einer gewaltigen Höhe, mit einer vollkommenen
Sicht und einer engelhaften Unparteilichkeit, mit der Sicht
dessen, der offenen Auges in die Sonne schauen kann«,
und im Portrait wird es heißen, der Künstler bleibe »wie der Gott der Schöpfung … in oder hinter oder jenseits oder
über dem Werk seiner Hände, unsichtbar, verfeinert bis
zum Verschwinden, gleichgültig, nur damit beschäftigt,
sich die Nägel zu maniküren.«
In dem Vortrag James Clarence Mangan , den er am
15. Februar 1902 wiederum vor der Literary and Historical
Society hielt und dann in der Mai-Nummer des St.
Stephen’s Magazine veröffentlichte, lesen wir: »Schönheit, der Glanz der Wahrheit, ist eine Gnadenerscheinung
[ gracious presence ], wenn die Imagination gesammelt und angespannt die Wirklichkeit ihres eigenen Seins oder die
sichtbare Welt betrachtet, und der Geist, der aus Wahrheit
und Schönheit hervorgeht, ist der heilige Geist der Freude.
Das sind Realitäten, und sie allein geben und erhalten das
110
Leben.« Hier haben wir ohne Zweifel den ersten Keim des
Begriffs der Epiphame, wie er in späteren Schriften
entwickelt werden wird.
In The study of languages , einem Aufsatz aus dem ersten Studienjahr (1898 – 99), finden wir eine eindrucksvolle
These, die der Struktur des Ulysses zugrunde liegt: Der junge Autor spricht von einer Sprache der Kunst und sagt,
sie erhebe sich »über die Härte, die für platte, nicht
gehobene Aussagen hinreicht, durch den zusätzlichen
Einfluß dessen, was schön ist an ergreifenden Formu-
lierungen, am Aufschwellen von Worten, an Sturzbächen
von Schmähungen, an Tropen und Abwandlungen und
Figuren, wobei jedoch selbst in Augenblicken höchster
Emotion eine naturgegebene Symmetrie bewahrt bleibt.«
Aus demselben Text können wir sogar ein fernes Echo
von Finnegans Wake und der künftigen Vico-Lektüre
heraushören, wenn Joyce schreibt: »In der Geschichte der
Wörter ist vieles enthalten, was auf die Geschichte der
Menschen verweist, und wenn wir die heutige Sprache mit
derjenigen vor vielen Jahren vergleichen, haben wir eine
brauchbare Illustration dafür, wie sich äußere Einflüsse bis
in die Wörter eines Volkes hinein auswirken.«
Auch Joyces grundlegende Obsession, die Suche nach
einer Wahrheit der Kunst durch das Manövrieren mit allen
Sprachen der Welt, zeigt sich in einem anderen Abschnitt
dieses frühen Aufsatzes, wenn Jim noch im ersten
Studienjahr schreibt: »Die höheren Ränge der Sprache,
Stil, Syntax, Poesie, Beredsamkeit und Rhetorik sind
wiederum, in welcher Weise auch immer, die Vorreiter
und Vertreter der Wahrheit.«
Wenn es wahr ist, daß jeder Autor sein ganzes Leben
lang eine einzige keimhafte Idee entwickelt, dann scheint
das für Joyce besonders zu gelten: Noch nicht bachelor , wußte er bereits genau, was er tun mußte, und hat es hier
111
in diesen Mauern ausgesprochen, wenn auch nur beiläufig
und eher naiv. Oder, wenn Sie so lieber wollen: Er hatte
beschlossen, aus seinem reifen Alter das zu machen, was
vorauszusehen ihm während des Studiums in diesen Aulen
gelungen war.
In seinem ersten Studienjahr hatte er über die
Repräsentation der Wissenschaften in Santa Maria Novella
nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, die
Grammatik müsse »die primäre Wissenschaft« sein. Also
widmete er einen großen Teil seines Lebens der Erfindung
einer neuen Grammatik, und die Suche nach Wahrheit
wurde für ihn zur Suche nach einer vollkommenen
Sprache.
In diesem Jahr, in dem Dublin als Kulturhauptstadt
Europas gefeiert wird, ist es angebracht, über die Tatsache
nachzudenken, daß die Suche nach einer vollkommenen
Sprache ein typisch europäisches Phänomen war und
weiterhin bleiben wird. Europa hat sich aus einem
einzigen Kern von Sprachen und Kulturen entwickelt (aus
der griechisch-römischen Welt) und ist dann in
verschiedene Nationen mit verschiedenen Sprachen
auseinandergefallen. Die alte Welt hatte sich weder um
das Problem einer vollkommenen Sprache noch um das
der Sprachenvielfalt gekümmert. Die hellenistische koiné
und später das Latein der Kaiserzeit gewährleisteten ein
zufriedenstellendes universelles Kommunikationssystem
vom Mittelmeerraum bis zu den Britischen Inseln. Die
beiden Völker, welche die Sprache der Philosophie und
die Sprache der Gesetze erfunden hatten, setzten die
Strukturen ihrer Sprache mit den Strukturen der mensch-
lichen
Weitere Kostenlose Bücher