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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Leben lang auf den
    Fersen geblieben.
    Allerdings bestand Dantes Projekt, wie jedes andere
    Projekt einer vollkommenen Sprache, darin, eine Sprache
    zu finden oder zu schaffen, die der Menschheit erlauben
    117
    sollte, dem nachbabylonischen Labyrinth zu entkommen.
    Man kann, wie es Dante getan hat, die Pluralität der
    Sprachen positiv sehen, aber eine vollkommene Sprache
    müßte klar und evident sein, nicht labyrinthisch. Im
    Gegensatz dazu scheint Joyces Projekt, je weiter er sich
    von seiner ersten thomistischen Ästhetik entfernt und der
    in Finnegans Wake ausgedrückten Sicht der Welt
    annähert, darin zu bestehen, das Chaos nach Babel nicht
    durch dessen Ablehnung zu überwinden, sondern indem er
    es als die einzige Möglichkeit anerkennt. Joyce hat
    niemals versucht, sich vor oder hinter dem Turm von
    Babel anzusiedeln, er hat in ihm leben wollen – und man kann sich fragen, ob die Entscheidung, den Ulysses auf der Spitze eines Turms beginnen zu lassen, nicht eine
    unbewußte Vorwegnahme seines Endziels ist, nämlich
    einen polyglutturalen und multilingualen Schmelztiegel zu erzeugen, der nicht das Ende, sondern den Triumph der
    babylonischen Sprachverwirrung darstellt.
    Was könnte der ferne Ursprung einer solchen Ent-
    scheidung gewesen sein?
    In der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts war in Irland
    eine Abhandlung über Grammatik erschienen, die den
    Titel Auraicept na n-Éces (»Fibel der Gelehrten«) trug. Ihr Grundgedanke war, daß man, um das Modell der
    lateinischen Grammatik ans Irische anzupassen, die
    Struktur des Turms zu Babel nachahmen müsse: So wie es
    acht oder neun (je nach den Versionen des Textes)
    Wortarten gebe, nämlich Nomen, Pronomen, Verb,
    Adverb und so weiter, so seien beim Bau des Turms acht
    oder neun Grundmaterialien verwendet worden: Wasser,
    Blut, Ton, Holz und so weiter. Warum diese Parallele?
    Weil die zweiundsiebzig Gelehrten der Schule von Fenius
    Farrsaid, die zehn Jahre nach dem Chaos von Babel die
    118
    erste Sprache entworfen hatten (und es versteht sich von
    selbst, daß diese Sprache das Gälische war), ein Idiom zu
    konstruieren versuchten, das wie die ursprüngliche
    Sprache nicht nur dem Wesen der Dinge homolog sein,
    sondern auch imstande sein sollte, das Wesen aller
    anderen nach Babel entstandenen Sprachen zu berück-
    sichtigen. Inspiriert war dieses Vorhaben von Jesaja 66,18:
    »Ich werde kommen, um alle Völker und alle Zungen zu
    versammeln.« Die benutzte Methode bestand darin, aus
    jeder Sprache das Beste auszuwählen, indem man die
    anderen Sprachen sozusagen zerlegte und die Bruchstücke
    zu einer neuen, nun vollkommenen Struktur zusammen-
    fügte. Man ist versucht zu sagen, mit diesem Vorgehen
    seien die zweiundsiebzig Gelehrten wahre Künstler
    gewesen, denn wie Joyce erklärt: »der Künstler, der die
    feingesponnene Seele des Bildes aus dem Netzwerk der
    sie bestimmenden Zusammenhänge am exaktesten heraus-
    lösen und sie in künstlerischen Zusammenhängen wieder-
    verkörpern konnte, die als die für sie in ihrem neuen Amt
    exaktesten gewählt waren, der war der höchste Künstler«
    [ Stephen der Held , dt. v. Klaus Reichert, S. 82]. Zerlegen, segmentieren – heute ein Grundbegriff in der Analyse von
    Sprachsystemen – war für jene Gelehrten so wichtig, daß
    (wie ich meiner Quelle entnehme2) das Wort teipe ,
    »segmentieren«, also auswählen, modellieren, automatisch
    die irische Sprache als berla teipide bezeichnete. Infolgedessen wurde das Auraicept in seiner Eigenschaft als der 2 Diego Poli, »La metafora di Babele e le partitiones nella teoria grammaticale irlandese dell’Auraicept na n-Éces« , in Diego Poli (ed.), Episteme. Quaderni Linguistid e Filologici , IV, 1986 – 89, Università di Macerata, Istituto di Glottologia e Linguistica
    Generale.
    119
    Text, der dieses Ereignis definierte, als eine Allegorie der
    Welt betrachtet.
    Interessanterweise ist nun eine ganz ähnliche Theorie
    von einem Quasi-Zeitgenossen Dantes vertreten worden,
    nämlich dem großen Kabbalisten Abraham Abulafia im
    12.
    Jahrhundert. Ihm zufolge hatte Gott dem ersten
    Menschen nicht eine spezifische Sprache gegeben,
    sondern eine Art Methode, eine universale Grammatik, die
    zwar in der Katastrophe von Babel verlorengegangen ist,
    aber im Volk der Hebräer überlebt hat, welches sie so gut
    zu nutzen verstand, daß es mit ihr die hebräische Sprache
    erschuf, die vollkommenste der siebzig nachbabelschen
    Sprachen.
    Doch das Hebräische, von dem Abulafia

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