Die Bücher und das Paradies
Traditionen
besaß, relativ gut einen Text, den er zum ersten Mal
explizit in seinem Triestiner Vortrag erwähnt: das Book of Kells.
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Als Student hatte er das Original sicher im Trinity
College gesehen, und später erwähnte er eine Repro-
duktion, The Book of Kells, described by Sir Edward
Sullivan, and illustrated with twenty-four plates in colour (London/Paris/New York, Studio Press, 2. Auflage, 1920).
Ein Exemplar davon schenkte er übrigens Miss Weaver zu
Weihnachten 1922.
Kürzlich habe ich in einem Vorwort zu der prächtigen
Faksimile-Ausgabe des Manuskripts4 darauf hingewiesen,
daß diesem Meisterwerk der irischen Buchkunst ein
allgemeines »Gemurmel« vorausgegangen und gefolgt ist,
und ich bin sicher, daß Joyce von diesem Gemurmel
irgendwie beeinflußt war. Vorgestern habe ich einen
Nachmittag (den zweiten in me inem Leben) am magischsten Ort von Irland verbracht, bei den Sieben
Kirchen von Clonmacnoise, und dabei ist mir erneut
klargeworden, daß niemand, auch wer noch nie etwas von
den irischen Grammatikern oder dem Book of Kells , von
Durrow , von Lindisfarne oder von Dun Cow gehört hat, dieses Panorama und diese alten Steine betrachten kann,
ohne das Gemurmel zu hören, das die Geburt und das
tausendjährige Leben des Book of Kells begleitet hat.
Die Geschichten der lateinischen Kultur vor dem Jahr
1000 verzeichnen, insbesondere zwischen dem siebten und
zehnten Jahrhundert, die Entwicklung der sogenannten
»hisperischen Ästhetik«, das heißt eines neuen Stils, der
sich von Spanien über Gallien und Britannien bis nach
Irland ausbreitet.5 Die klassisch-lateinische Tradition
4 Book of Kells (Ms.
58, Trinity College Library Dublin),
Kommentar, hrsg. v. Anton von Euw und Peter Fox, Faksimile
Verlag, Luzern, 1990.
5 Zur hisperischen Ästhetik und der Hisperica Famina siehe The Hisperica Famina I. The A-Text , hrsg. v. Michael Herren (Toronto, 123
bezeichnete (und verurteilte) diesen Stil als »asiatisch«
und später »afrikanisch«, im Gegensatz zum wohl-
ausgewogenen »attischen« Stil. Schon Quintilian hatte in
seiner Institutio Oratoria (XII, 79) hervorgehoben, was der vollendete Stil zu bieten habe, nämlich magna non
nimia, sublimia, non abrupta, fortia non temeraria, severa non tristia, gravia non tarda, laeta non luxuriosa, iucunda non dissoluta, grandia non tumida (»das Große, nicht das Überbordende, das Erhabene, nicht das Abrupte, das
Starke, nicht das Unbesonnene, das Ernste, nicht das
Trübsinnige, das Schwere, nicht das Träge, das Fröhliche,
nicht das Schwelgerische, das Freudige, nicht das Lockere,
das Grandiose, nicht das Aufgeblasene«). Nicht nur die
römisch-griechische, auch die frühchristliche Rhetorik
verurteilte das, was sie kakozelón oder mala affectatio nannte, Affektiertheit und Vorliebe für das Ausgefallene.
Als Beispiel dafür, wie sich die Kirchenväter zu Anfang
des fünften Jahrhunderts über Fälle dieser mala affectatio erregten, lese man folgende Schmährede des Hieronymus
( Adversus Jovinianum , I): »Es gibt heutzutage so viele barbarische Schreiber, und die Rede wird durch so viele
schlimmste stilistische Laster entstellt, daß man weder zu
erkennen vermag, wer da spricht, noch mit welchen
Argumenten er das Gesagte beweisen will. Alles bläht sich
auf, alles liegt darnieder: es erhebt sich für einen
Augenblick und bricht wie eine geschwächte Schlange
bereits im Aufschwung zusammen … Alles verknäuelt
sich zu so unentwirrbaren Wörterknoten, daß man mit
Plautus ausrufen möchte: ›Das versteht ja niemand außer
der Sibylle!‹ Was sollen all diese Wortungetüme?«
Pontifical Institute of Medieval Studies, 1974) und The Hisperica Famina II. Related Poems , hrsg. v. Michael Herren (Toronto, ebenda, 1987).
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Man könnte meinen, dies sei die gehässige Beschreibung
einer Seite des Book of Kells oder des Finnegans Wake , verfaßt von einem Traditionalisten – und vielleicht hätte
Hieronymus tatsächlich angesichts unseres Buches so
reagiert. Doch in der Zwischenzeit hat sich etwas
Entscheidendes ereignet: Was die klassische Tradition als
ein »Laster« ansah, ist für die hisperische Ästhetik zu
einer Tugend geworden. Der hisperische Stil gehorcht
nicht mehr den Gesetzen der Syntax und der traditionellen
Rhetorik, die Regeln des Rhythmus und Metrums werden
verletzt, um Aufzählungen in barocker Manier zu erzielen.
Lange Alliterationsketten, die der klassische Geschmack
als
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