Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Traditionen
    besaß, relativ gut einen Text, den er zum ersten Mal
    explizit in seinem Triestiner Vortrag erwähnt: das Book of Kells.
    122
    Als Student hatte er das Original sicher im Trinity
    College gesehen, und später erwähnte er eine Repro-
    duktion, The Book of Kells, described by Sir Edward
    Sullivan, and illustrated with twenty-four plates in colour (London/Paris/New York, Studio Press, 2. Auflage, 1920).
    Ein Exemplar davon schenkte er übrigens Miss Weaver zu
    Weihnachten 1922.
    Kürzlich habe ich in einem Vorwort zu der prächtigen
    Faksimile-Ausgabe des Manuskripts4 darauf hingewiesen,
    daß diesem Meisterwerk der irischen Buchkunst ein
    allgemeines »Gemurmel« vorausgegangen und gefolgt ist,
    und ich bin sicher, daß Joyce von diesem Gemurmel
    irgendwie beeinflußt war. Vorgestern habe ich einen
    Nachmittag (den zweiten in me inem Leben) am magischsten Ort von Irland verbracht, bei den Sieben
    Kirchen von Clonmacnoise, und dabei ist mir erneut
    klargeworden, daß niemand, auch wer noch nie etwas von
    den irischen Grammatikern oder dem Book of Kells , von
    Durrow , von Lindisfarne oder von Dun Cow gehört hat, dieses Panorama und diese alten Steine betrachten kann,
    ohne das Gemurmel zu hören, das die Geburt und das
    tausendjährige Leben des Book of Kells begleitet hat.
    Die Geschichten der lateinischen Kultur vor dem Jahr
    1000 verzeichnen, insbesondere zwischen dem siebten und
    zehnten Jahrhundert, die Entwicklung der sogenannten
    »hisperischen Ästhetik«, das heißt eines neuen Stils, der
    sich von Spanien über Gallien und Britannien bis nach
    Irland ausbreitet.5 Die klassisch-lateinische Tradition

    4 Book of Kells (Ms.
    58, Trinity College Library Dublin),
    Kommentar, hrsg. v. Anton von Euw und Peter Fox, Faksimile
    Verlag, Luzern, 1990.
    5 Zur hisperischen Ästhetik und der Hisperica Famina siehe The Hisperica Famina I. The A-Text , hrsg. v. Michael Herren (Toronto, 123
    bezeichnete (und verurteilte) diesen Stil als »asiatisch«
    und später »afrikanisch«, im Gegensatz zum wohl-
    ausgewogenen »attischen« Stil. Schon Quintilian hatte in
    seiner Institutio Oratoria (XII, 79) hervorgehoben, was der vollendete Stil zu bieten habe, nämlich magna non
    nimia, sublimia, non abrupta, fortia non temeraria, severa non tristia, gravia non tarda, laeta non luxuriosa, iucunda non dissoluta, grandia non tumida (»das Große, nicht das Überbordende, das Erhabene, nicht das Abrupte, das
    Starke, nicht das Unbesonnene, das Ernste, nicht das
    Trübsinnige, das Schwere, nicht das Träge, das Fröhliche,
    nicht das Schwelgerische, das Freudige, nicht das Lockere,
    das Grandiose, nicht das Aufgeblasene«). Nicht nur die
    römisch-griechische, auch die frühchristliche Rhetorik
    verurteilte das, was sie kakozelón oder mala affectatio nannte, Affektiertheit und Vorliebe für das Ausgefallene.
    Als Beispiel dafür, wie sich die Kirchenväter zu Anfang
    des fünften Jahrhunderts über Fälle dieser mala affectatio erregten, lese man folgende Schmährede des Hieronymus
    ( Adversus Jovinianum , I): »Es gibt heutzutage so viele barbarische Schreiber, und die Rede wird durch so viele
    schlimmste stilistische Laster entstellt, daß man weder zu
    erkennen vermag, wer da spricht, noch mit welchen
    Argumenten er das Gesagte beweisen will. Alles bläht sich
    auf, alles liegt darnieder: es erhebt sich für einen
    Augenblick und bricht wie eine geschwächte Schlange
    bereits im Aufschwung zusammen … Alles verknäuelt
    sich zu so unentwirrbaren Wörterknoten, daß man mit
    Plautus ausrufen möchte: ›Das versteht ja niemand außer
    der Sibylle!‹ Was sollen all diese Wortungetüme?«

    Pontifical Institute of Medieval Studies, 1974) und The Hisperica Famina II. Related Poems , hrsg. v. Michael Herren (Toronto, ebenda, 1987).
    124
    Man könnte meinen, dies sei die gehässige Beschreibung
    einer Seite des Book of Kells oder des Finnegans Wake , verfaßt von einem Traditionalisten – und vielleicht hätte
    Hieronymus tatsächlich angesichts unseres Buches so
    reagiert. Doch in der Zwischenzeit hat sich etwas
    Entscheidendes ereignet: Was die klassische Tradition als
    ein »Laster« ansah, ist für die hisperische Ästhetik zu
    einer Tugend geworden. Der hisperische Stil gehorcht
    nicht mehr den Gesetzen der Syntax und der traditionellen
    Rhetorik, die Regeln des Rhythmus und Metrums werden
    verletzt, um Aufzählungen in barocker Manier zu erzielen.
    Lange Alliterationsketten, die der klassische Geschmack
    als

Weitere Kostenlose Bücher