Die Bücher und das Paradies
gleichen lexikalischen Erfindungen, die von
Virgilius Grammaticus in seinen Epitomae und Epistolae
gepriesen werden.7 Viele Gelehrte vermuten heute, daß
6 Liber monstrorum de diversis generihus , hg. v. Corrado Bologna, Mailand, Bompiani, 1977.
7 Virgilio Marone Grammatico, Epitomi ed Epistole , hg. v.
G. Polara, Rom, Liguori, 1979.
127
dieser verrückte Philologe aus Bigorre bei Toulouse in
Wahrheit ein Ire war, und tatsächlich scheint alles, von
seinem Stil bis zu seiner Sicht der Welt, diese Vermutung
zu stützen. Virgilius lebte im siebten Jahrhundert, also
wahrscheinlich rund hundert Jahre vor der Entstehung des
Book of Kells . Er zitiert angebliche Passagen von Cicero und seinem Namensvetter Vergil (dem richtigen, dem
Dichter), die unmöglich von diesen Autoren stammen
können, aber dann entdecken oder erraten wir, daß er
einem Rhetorenzirkel angehörte, dessen Mitglieder sich
die Namen klassischer Autoren beigelegt hatten. Virgilius
zitiert also die Erfindungen seiner Freunde. Vielleicht hat
er sie erfunden, vielleicht will er sich über die anderen
Rhetoren lustig machen. Beeinflußt von der keltischen, der
westgotischen, der irischen und der hebräischen Kultur
beschreibt er ein sprachliches Universum, das aussieht, als
wäre es der Phantasie eines modernen surrealistischen
Dichters entsprungen.
Es gebe zwölf verschiedene Arten von Latein, behauptet
er, und in jeder von ihnen könne das Feuer anders heißen,
nämlich ignis, quoquihabin, ardon, calax, spiridon, rusin, fragon, fumaton, ustrax, vitius, siluleus und aeneon ( Epitomae I, 4). Eine Schlacht werde praelium genannt, weil sie auf dem Meer stattfinde (das praelum heiße, weil es dank seiner Weite die Suprematie oder das praelatum
des Wunderbaren habe, Epitomae IV, 10). Die Geometrie sei eine Kunst, die alle Experimente mit Kräutern und
Pflanzen erkläre, weshalb man die Ärzte auch Geometer
nenne ( Epitomae IV, 11). Der Redner Aemilius habe
elegant verkündet: SSSSSSSSSSS PP NNNNNNNN
GGGG R MM TTT D CC AAAAAAA IIII VVVVVVVV
O AE EEEEEEE – was soviel bedeute wie (wenn man die
Buchstaben wieder richtig zusammensetzt): »Der Weise
saugt das Blut der Weisheit und muß daher richtig
128
Blutsauger genannt werden« ( Epitomae
X, 1). Die
Grammatiker Galbungus und Terrentius disputierten
vierzehn Tage lang pausenlos über den Vokativ von ego , und das Problem war von größter Wichtigkeit, galt es doch
zu bestimmen, wie man sich selbst emphatisch anreden
kann (»O ich, habe ich recht getan?« – » O egone, recte
feci? «). Dies und anderes erzählt uns Virgilius – womit er uns an den jungen Joyce erinnert, der sich fragte, ob die
Taufe mit Mineralwasser gültig sei.
Jeder der angeführten Texte könnte dazu benutzt
werden, eine Seite des Book of Kells zu beschreiben,
ebenso wie eine Seite von Finnegans Wake , denn in jedem von ihnen macht die Sprache das, was im Book of Kells
die Bilder machen. Das Book of Kells mit Worten
beschreiben heißt ein Stück hisperischer Literatur neu
erfinden. Das Book of Kells ist ein Blühen von Flechten und Schnörkeln, von entrelacs in Form stilisierter
Tiergestalten, kleiner affenartiger Figuren in einem
unentwirrbaren geometrischen Laubwerk, das Seiten um
Seiten bedeckt, als ginge es um die immergleichen
ornamentalen Motive eines Wandteppichs, während in
Wirklichkeit jede Linie und jede Dolde eine neue Er-
findung darstellen. Es ist ein Wuchern wildverschlungener
Geschichten, die bewußt auf jede Regel der Symmetrie
verzichten, eine Symphonie zarter Farben von Rosa bis
Orangegelb, von Zitronengelb bis Rotviolett. Vierfüßler,
Vögel, Windhunde mit Schwanenschnäbeln, unglaubliche
humanoide Gestalten, verrenkt wie Zirkusathleten, die den
Kopf hinterrücks zwischen die Knie stecken und ihn so
verdrehen, daß er den Anfang einer Initiale bildet,
geschmeidige Wesen, biegsam wie farbige Gummibänder,
fügen sich in das Flechtwerk ein, lugen hinter abstrakten
Ornamenten hervor, ranken sich um die Initialen und
drängen sich zwischen die Zeilen. Die Buchseite bleibt
129
unter dem betrachtenden Blick nicht starr, es scheint, als
ob sie ein eigenes Leben gewinnt, es gibt keine festen
Bezugspunkte mehr, und alles vermengt sich mit allem.
Das Book of Kells ist das Reich des Proteus. Es ist das Resultat einer kühlen Halluzination, die weder Mescalin
noch LSD benötigt, um ihre Abgründe aufzureißen, auch
weil es nicht das Delirium eines einzelnen
Weitere Kostenlose Bücher