Die Bücher und das Paradies
1955, S. 55.
231
losigkeit gemildert würde, wenn wir annähmen, daß Walt
Disney an genau diese Art von poetischem Verfahren
gedacht hatte), doch in Wahrheit tun sowohl Racine als
auch Walt Disney nichts anderes, als einer der
natürlichsten Neigungen des Menschen zu folgen, nämlich
den Schatten Konsistenz zu geben, beziehungsweise in der
dunklen Unförmigkeit einer erregten Natur lebendige und
bedrohliche Formen zu sehen (mit Recht betrachtet Parret
in diesem Zusammenhang die Hypotypose als eine der
Figuren, die zur Produktion des Erhabenen beitragen).
Was man meines Erachtens jedenfalls sagen kann, ist,
daß wir es in allen diesen Beispielen mit deskriptiven und
narrativen Techniken zu tun haben, deren Gemeinsamkeit
einzig darin besteht, daß der Adressat einen visuellen
Eindruck aus ihnen gewinnt (wenn er will, das heißt wenn
er bereit ist, mit dem Text zu kooperieren). Dies erlaubt
mir zu sagen, daß folglich hier die Hypotypose als
besondere rhetorische Figur nicht existiert. Die Sprache
gestattet uns das Beschreiben von Gesichtern, Formen,
Posen, »Szenen«, Handlungssequenzen, sie gestattet es
uns fortwährend im Laufe unserer alltäglichen
Verrichtungen (andernfalls könnten wir nicht einmal
sagen: »Hol mir bitte mal aus dem Geräteschuppen dieses
Ding, das soundso aussieht«), und sie ermutigt uns erst
recht dazu, dies aus künstlerischen Gründen zu tun, aber
sie gestattet es aufgrund vielfältiger Techniken, die sich
nicht auf eine Formel oder Instruktion reduzieren lassen,
wie es bei Tropen und den rhetorischen Figuren im
eigentlichen Sinne vorkommt, etwa bei der Synekdoche,
dem Hyperbaton, dem Zeugma und sogar in gewissem
Maße bei der Metapher.
So bliebe uns also nichts anderes mehr übrig, als eine
Typologie von Techniken der Darstellung/Evokation des
Raumes in Angriff zu nehmen. Müßten wir uns nicht an
232
diesem Punkt erst noch fragen, was eigentlich unter Raum
zu verstehen ist – ohne dabei vermeiden zu können, uns
die gleiche Frage auch über die Zeit zu stellen.
Es gibt Raum und Zeit im newtonschen Sinn als absolute
Größen, Raum und Zeit im kantischen Sinn als reine
Anschauung und apriorische Bedingung der Erfahrung, es
gibt den bergsonschen Gegensatz zwischen Zeit der Uhren
und Zeit der inneren Dauer, es gibt den meßbaren Raum
der cartesianischen Geometrie und den gelebten Raum der
Phänomenologie. Hier geht es nicht darum, die eine oder
andere Auffassung zu privilegieren, da uns die Sprache
immer gestattet, von Raum und Zeit zu sprechen, und man
zwanglos sagen kann, wie viele Millionen Kilometer man
bis zum Sternbild Alpha Centauri zurücklegen müßte oder
wieviel Lebens-(&-Leidens-)zeit eine nicht enden
wollende Reise von Florenz nach Fiesole kosten kann,
ganz zu schweigen von einer Reise um die eigene
Schlafkammer herum (im Tristram Shandy füllt ein
Gespräch zwischen zwei Personen, die eine Treppe
hinuntersteigen, drei ganze Kapitel).
Wollte man heute (nach der Erfindung neuer Darstel-
lungstechniken wie des Films) Lessings Laokoon neu
schreiben, müßte man sich fragen, ob es noch einen Sinn
hat, zwischen Künsten der Zeit und Künsten des Raumes
zu trennen und – wenn man das positiv beantwortet – sich
fragen, wie dann die Künste des Raumes die Zeit und die
Künste der Zeit den Raum darstellen können.
Zunächst einmal lassen sich viele Überlegungen darüber
anstellen, wie die Künste des Raumes den Raum dar-
stellen. Das Hauptbeispiel dafür ist die Perspektive, in der
eine zweidimensionale physische Fläche Dreidimen-
sionalität als ihre Bedingung erzeugt und ein winziges
Stück Ausdrucksraum weitesten Inhaltsraum ausdrücken
233
kann – wie man entdeckt, wenn man zum Beispiel die
Geißelung Christi von Piero Della Francesca, nachdem
man sie lange in verschiedenen Reproduktionen gesehen
hat, endlich im Original im Palazzo Ducale von Urbino
sieht und verblüfft feststellt, daß dieser als so weitläufig
wahrgenommene Raum in einen so kleinen Rahmen
gefaßt ist.
Wie die Künste des Raumes die Zeit darstellen oder
geradezu die Zeit ihrer eigenen Betrachtung implizieren,
habe ich an anderer Stelle behandelt.5 Die Phänomeno-
logie ist weit gespannt und verlangt zunächst eine Analyse
der diversen Beziehungen, die Gérard Genette bezeich-
nende ( signifiante )und bezeichnete ( signifiée )Räumlichkeit nennt – und die ich aus Gründen, auf die ich später
zurückkommen werde, lieber als
Weitere Kostenlose Bücher