Die Bücher und das Paradies
Räumlichkeit des
Ausdrucks und Räumlichkeit des Inhalts ansprechen
würde. Es gibt Bilder, die eine Art Erstarrung des Augen-
blicks suggerieren, wie jene Verkündigung von Lorenzo Lotto, in der die überraschte Geste Marias in dem
Augenblick erfaßt worden ist, in dem eine Katze durchs
Zimmer springt, oder ein Schnitt von Lucio Fontana
gleichsam als Momentaufnahme der blitzartigen Bewe-
gung, mit der die Klinge durch die gespannte Leinwand
gefahren ist.
Genau bedacht liegt jedoch nichts Einzigartiges in der
Tatsache, daß ein begrenztes Stück Raum, das von sich
aus zeitlos ist, einen kurzen Moment ausdrückt. Das
Problem entsteht, wenn man sich fragt, wie durch
Fragmente von Raum eine lange Zeit ausgedrückt wird.
Zunächst entdeckt man, daß man im allgemeinen, um viel
5 Vgl. »Die Zeit in der Kunst«, in Über Spiegel und andere Phänomene , Hanser 1985, S. 143 – 154.
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Zeit auszudrücken, viel Raum benötigt. Es gibt Bilder-
geschichten, die eine sogar jahrhundertelange Folge von
Ereignissen durch eine Reihe von Einzelbildern darstellen,
wie es bei den Comics der Fall ist; andere durch visuelle
Wiederholung derselben Figuren in verschiedenen
Aufmachungen, Situationen und Lebensaltern. Dies alles
sind Fälle, in denen viel Raum aufgewandt wird, um viel
Zeit darzustellen, und zwar nicht nur viel bezeichnender
Raum, sondern auch viel von jenem Raum (nicht
semantischer, sondern pragmatischer Art), den der Be-
trachter abschreiten muß, um das Kunstwerk zu genießen.
Um das Vergehen der Zeit im Zyklus der Legende vom
Heiligen Kreuz in Arezzo zu erfassen, muß man sich
bewegen, und das nicht nur mit dem Blick, sondern auch
mit den Füßen, und noch mehr muß man wandern, wenn
man die ganze Geschichte verfolgen will, die auf dem
Wandteppich von Bayeux erzählt wird. Es gibt Kunst-
werke, die eine lange Zeit der Umkreisung verlangen und
zugleich eine lange Aufmerksamkeit für ihre kleinsten
Einzelheiten, wie eine gotische Kathedrale, zumal eine
wie in Chartres. Eine Skulptur, die sich als kleiner
Elfenbeinkubus präsentiert, kann in einem kurzen Moment
der Betrachtung erlebt werden (auch wenn ich glaube, daß
sie berührt und gedreht werden muß, damit man alle
Seiten erfaßt), aber ein Kubus, bei dem jede Seite eine
Million Quadratkilometer groß ist, muß umkreist werden,
vielleicht mit dem Raumschiff aus Odyssee im Weltraum , sonst würde man seine megagalaktische Erhabenheit nicht
erfassen.
Wenn man also viel Raum benötigt, um viel Zeit
darzustellen, wird man dann nicht (in den Künsten der
Zeit) auch viel Zeit benötigen, um viel Raum darzustellen?
Schränken wir das Thema zunächst einmal ein. Stellen wir
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uns zum Beispiel nicht die Frage, ob die Musik den Raum
ausdrücken kann, auch wenn wir sie instinktiv bejahen
würden. Auch wer nicht um jeden Preis deskriptivistisch
sein will, kann schwer leugnen, daß die Symphonie aus
der Neuen Welt von Dvořák oder die Moldau von Smetana weite Räume suggerieren, so daß der Dirigent sich häufig
dazu verleitet sieht, mit weit ausgreifenden weichen
Bewegungen zu dirigieren, als wollte er ein Fließen
ausdrücken und könnte mit ihrer Länge zu dieser Wirkung
beitragen. Sicher legen manche Arten von Musik die
Pirouette nahe, andere den Sprung, wieder andere das
Schreiten, und folglich gibt es rhythmische Strukturen, die
körperliche Bewegungen herbeiführen oder abbilden, mit
denen wir uns im Raum bewegen – andernfalls gäbe es
keinen Tanz.
Aber beschränken wir uns auf die verbale Rede. Nehmen
wir die Unterscheidung zwischen Raum des Ausdrucks
und Raum des Inhalts wieder auf und heben wir hervor,
daß wir uns weniger für die Form des Ausdrucks als
vielmehr für seine Substanz werden interessieren müssen.
Wir haben es schon gesehen, als wir uns mit den
Beispielen von Quintilian befaßten: zu sagen, daß zwei
Faustkämpfer sich auf die Zehenspitzen recken, scheint
uns keine große Hypotypose zu sein, während uns die
detaillierte Beschreibung der Eroberung und Plünderung
einer Stadt, Ereignis für Ereignis und Moment für
Moment, sehr viel anschaulicher dünkt. Aber eine solche
Beschreibung erfordert eine Menge Seiten (oder
wenigstens Verse).
Daher würde ich, wenn ich von räumlichem Ausdruck
spreche, nicht an jene Fälle denken, in denen auf der
Ausdrucksebene ein Raum benannt wird, der auf der
Inhaltsebene nicht mehr Raum, sondern etwas anderes ist,
womöglich gar ein
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