Die Bücher und das Paradies
geduldige
Arbeit, ohne irgendeiner Erpressung nachzugeben, unsere
kleinen Zeitgenossen zu beschämen.
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Les sémaphores sous la pluie1
Wie stellt man den Raum mit Worten dar? Das Problem
hat eine Geschichte, und die Tradition rubriziert die
Techniken der verbalen Darstellung des Raumes (wie aller
anderen visuellen Erfahrungen) unter den Namen der
Hypotypose oder evidentia , die bisweilen gleichgesetzt, bisweilen als verwandt beschrieben wird mit der
illustratio , der demonstratio , der ekphrasis oder descriptio , der enárgeia usw.
Unglücklicherweise sind jedoch alle Definitionen der
Hypotypose kreisförmig, das heißt, sie definieren als
Hypotypose jene Redefigur, durch die visuelle Erfah-
rungen mit Hilfe verbaler Mittel dargestellt oder evoziert
werden. Siehe die Definitionen der großen antiken
Rhetoriker, von Hermogenes bis Longinos, von Cicero bis
Quintilian, die ich dem Lausberg entnehme, ohne mich
weiter um die Vaterschaften zu kümmern, scheint doch
ohnehin eine die andere zu wiederholen: (a) credibilis
rerum imago quae velut in rem praesentem perducere
audientes videtur, (b) proposita forma rerum ita expressa
verbis ut cerni potius videatur quam audiri, (c) quae tam
1 Schriftfassung eines Vortrags im Centro di Studi Semiotici e Cognitivi der Universität San Marino am 29. September 1996 für einen Kongreß über die Semiotik des Raumes. Ich eröffnete diesen Vortrag, indem ich den Artikel »I sensi, lo spazio, gli umori.
Micro-analisi di In the Orchard di Virginia Woolf« von Sandra Caviccioli (in VS , 57, 1990) als eine der schönsten Analysen des Raumes in der Literatur zitierte. Damals war die Autorin im Saal anwesend. Heute, da sie nicht mehr unter uns weilt, widme ich ihr diese Überlegungen.
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dicere videtur quam ostendere, praesentans oculis quod
demonstrat, (d) quasi gestarum sub oculis inductio 2 – und so weiter.
Vor mir habe ich (und zwar diesmal im Wortsinn »vor
Augen«) den Text über die Hypotypose, den Hermann
Parret im vergangenen Juli auf dem internationalen
Kolloquium in Cerisy vorgetragen hat3, und auch hier
scheint mir die Expedition ins Gestrüpp der neueren
Theoretiker keine zufriedenstellenden Resultate erbracht
zu haben. Dumarsais erinnert daran, daß Hypotypose Bild
oder Gemälde bedeutet und immer dann vorliegt, »wenn
in Beschreibungen die Dinge, von denen die Rede ist, so
ausgemalt werden, daß es scheint, als ob das, was man
sagt, tatsächlich vor Augen läge; man zeigt in gewisser
Weise das, was man nur erzählt …« ( Des tropes ou des
différents sens … , 1730), und für andere Theoretiker läßt diese Stilfigur die Realität »mit Händen greifen« – eine
schöne Metapher, gewiß, aber eine Figur zu benutzen, um
eine andere zu definieren, ist ein bißchen wenig. Zumal es
ja, wie schon Aristoteles weiß, eine rhetorische Figur gibt,
die einem die Dinge fast unter die Nase hält, nämlich die
Metapher – und niemand wird behaupten wollen, daß die
Metapher dasselbe sei wie die Hypotypose. Die Wahrheit
2 (a) glaubwürdiges Bild der Dinge, das die Zuhörer gleichsam zu dem gegenwärtigen Ding hinzuführen scheint, (b) vor Augen
gestellte Form der Dinge, die durch Worte so ausgedrückt wird, daß man sie besser zu sehen als zu hören meint, (c) die etwas
ebenso zu sagen wie vorzuzeigen scheint, indem sie das Gezeigte vor Augen stellt, (d) Methode, die Taten gleichsam vor Augen zu führen (A. d. Ü.).
3 Jetzt: Hermann Parret, »Au nom de l’hypotypose«, in Jean Petitot und Paolo Fabbri, Au nom du Sens: autour de l’œuvre d’Umberto Eco (Colloque de Cerisy, 29 juin au 9 juillet 1996), Paris, Grasset, 2000, S. 139 – 154.
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ist: wenn die rhetorischen Figuren der Rede Glanz,
Lebendigkeit und Überzeugungskraft geben sollen und
wenn man mit Horaz zugeben muß, daß die Dichtung ut
pictura ist, dann überraschen alle Redefiguren den Leser oder Zuhörer damit, daß sie ihm in gewisser Weise etwas
vor Augen oder unter die Nase halten. Wenn das aber so
ist und diese Metapher also wirklich zu allgemein wäre,
was wird dann aus der Hypotypose?
Zum Glück sind die Theoretiker gerade da, wo sie uns
nicht zu sagen vermögen, was eine Hypotypose ist, fast
immer in der Lage, sehr schöne Beispiele für sie zu geben.
Die ersten drei stammen von Quintilian ( Institutio
Oratoria , VIII, 3, 63 – 69). Das erste verweist auf einen Vers der Aeneis (V, 426), wo zwei Faustkämpfer
gegeneinander antreten und »sich
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