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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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waagerechten und senkrechten
    Flächen begrenzen: den Rücken der massiven Brüstung, die den
    Weg gegen das Meer abschirmt, die Innenwand der Brüstung, die
    Fahrbahn auf der Molenhöhe und die geländerlose Seitenwand, die ins Hafenwasser taucht. Die beiden senkrechten Flächen sind im Schatten, während die beiden anderen im hellen Sonnenlicht
    liegen – der Rücken der Brüstung in seiner ganzen Breite und die Fahrbahn mit Ausnahme eines schmalen, dunklen Streifens, dem
    Schatten der Brüstung. Eigentlich müßte man im Hafenwasser
    noch das umgekehrte Bild des Ganzen sehen, wieder dasselbe
    Spiel der Parallelen und den geradlinig dem Kai zustrebenden
    Schatten der hohen, senkrechten Wand.7
    Dieser Auszug (die Beschreibung geht noch fast zwei
    Seiten weiter) ist deshalb interessant, weil hier zuviel
    gesagt wird und die vielen Details den Leser hindern, sich
    ein Bild zusammenzusetzen (es sei denn um den Preis
    einer großen Anstrengung und intensiven Konzentration,
    die nur wenige aufbringen). Was uns die Schlußfolgerung
    nahelegt, daß Hypotypose dann vorliegt, wenn gerade

    7 Dt.
    Der Augenzeuge , übers. von Elmar Tophoven, Hanser 1957, S. 8 f. (jetzt Bibliothek Suhrkamp).
    239
    soviel gesagt wird, wie nötig ist, um den Adressaten zu
    einer Mitarbeit zu bewegen, in der er die Leerstellen
    auffüllt und Einzelheiten aus eigener Initiative ergänzt.
    Anders gesagt, die Hypotypose muß nicht so sehr etwas
    sichtbar machen, sie muß vielmehr Lust darauf machen,
    etwas zu sehen. Doch wo findet man eine Regel? Im Falle
    von Robbe-Grillet könnten wir sagen, daß der zitierte
    Abschnitt in seinem Bemühen, etwas sichtbar zu machen,
    gewollt scheitert (interessante Provokation für einen mit Le voyeur betitelten Text aus der école du regard ), da er keinen Anhaltspunkt bietet, irgendein Element als
    besonders relevant anzusehen: Alles ist gleichrangig und
    von gleicher Wichtigkeit.
    Was heißt, besondere Relevanz anzubieten? Es könnte
    heißen, eine Gefühlsreaktion verbal herauszuheben, sie in
    gewissem Sinne zu befehlen (»mitten auf dem Platz war
    etwas Schreckliches …«) oder auf einer Einzelheit zu
    Lasten anderer zu insistieren.
    Beispiele ließen sich endlos geben, ich beschränke mich
    auf einen Abschnitt, der Tausende von visuellen
    Übersetzungsversuchen provoziert hat, aus der Offen-
    barung Johannis 4,2 – 6:
    Und siehe, ein Thron stand im Himmel, und auf dem Thron saß
    einer. Und der da saß, war anzusehen wie der Stein Jaspis und
    Sarder; und ein Regenbogen war um den Thron, anzusehen wie ein Smaragd. Und um den Thron waren vierundzwanzig Throne, und
    auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste, mit weißen
    Kleidern angetan, und hatten auf ihren Häuptern goldene Kronen.
    Und vom Thron gingen aus Blitze, Stimmen und Donner; und
    sieben Fackeln mit Feuer brannten vor dem Thron, das sind die
    sieben Geister Gottes. Und vor dem Thron war es wie ein
    gläsernes Meer gleich dem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier Lebewesen voller Augen vorn und hinten …
    Hypotypose, wenn es je eine gab. Und doch beschreibt
    diese Beschreibung nicht alles, sondern begnügt sich mit
    240
    dem Notwendigsten. Von den vierundzwanzig Ältesten
    werden nur die weißen Kleider und die goldenen Kronen
    genannt, nicht aber die Augen oder die Bärte.
    3. Aufzählung
    Mit ihr haben wir eine Technik, die zweifellos zur
    Evokation von räumlichen Bildern führt, ohne besondere
    Relevanz zu erzeugen. Drei Beispiele, ein antikes aus
    spätlateinischer Zeit und zwei moderne.
    Zuerst eine Beschreibung der Stadt Narbonne bei
    Sidonius Apollinaris:
    Salve Narbo, potens salubritate,
    urbe et rure simul bonus videri,
    muris, civibus, ambitu, tabernis,
    portis, porticibus, foro, theatro,
    delubris, capitoliis, monetis,
    thermis, arcubus, horreis, macellis,
    pratis, fontibus, insulis, salinis,
    stagnis, flumine, merce, ponte, ponto;
    unus qui venerere iure divos
    Lenaeum, Cererem, Palem, Minervam
    spicis, palmite, pascuis, trapetis.

    Gegrüßet seist du, Narbonne, an Wohltaten reich,
    als Stadt und Land gleich angenehm zu betrachten:
    ob Mauern, Bürger, Wälle, Läden,
    Tore, Hallen, Forum, Theater,
    Tempel, Rathaus, Münze,
    Thermen, Bögen, Speicher, Märkte,
    Wiesen, Brunnen, Inseln, Salinen,
    Teiche, Fluß, Messe, Brücke, Meer;
    einzige Stadt, die rechtens verehrt die Götter
    Lenaeus, Ceres, Pales, Minerva,
    mit Ähren, Rebschößen, Weiden, Ölpressen.
    241
    Nun ein Abschnitt aus der Beschreibung des

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