Die Bücher und das Paradies
beide sogleich auf die
Zehenspitzen recken«. Das zweite zitiert die Verrinen (5, 33, 86): »Am Ufer stand, in Sandalen, mit einem roten
Mantel und einer bis zu den Füßen reichenden Tunika, auf
eine Dirne gestützt, der Prätor des römischen Volkes«, und
Quintilian fragt sich, ob jemand so phantasielos sein kann,
den Ort und die Personen nicht vor sich zu sehen, und
sogar mehr, als tatsächlich gesagt wird, nämlich auch die
Gesichter und die Augen und die obszönen Liebkosungen
und das Unbehagen der Umstehenden. Das dritte Beispiel,
ebenfalls von Cicero, ein Abschnitt aus der Rede für
Q. Gallius, bezieht sich auf ein ausschweifendes Gast-
mahl: »Mir schien, als sähe ich Leute ein- und ausgehen,
einige torkelten betrunken, andere gähnten wegen des
Rausches vom vorigen Tage. Der Boden war schmutzig,
besudelt mit Wein, übersät mit verwelkten Blumenkränzen
und Fischgräten.«
Ein viertes Beispiel lautet: »Gewiß verbindet, wer sagt,
daß eine Stadt eingenommen worden ist, damit die
Vorstellung allen Unglücks, das eine solche Heimsuchung
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mit sich zu bringen pflegt, aber eine so knappe Auskunft
weckt keine tiefe Rührung. Wenn jedoch die in einem
einzigen Wort enthaltenen Vorstellungen sich entfalten
können, dann sieht man die Flammen in Häusern und
Tempeln lodern und hört das Krachen der zusammen-
stürzenden Häuser und den verworrenen gleichförmigen
Lärm, den unterschiedliche Laute erzeugen, und die
Ungewisse Flucht der einen, die letzten verzweifelten
Umarmungen der anderen, das Geschrei der Kinder und
der Frauen, die Alten, die unglücklicherweise bis zu
diesem Tag am Leben geblieben sind; und weiter die
Zerstörung der profanen und heiligen Dinge, das Ge-
tümmel derer, die ihre Beute forttragen und zurückkehren,
um sich noch mehr zu holen, die Gefangenen in ihren
Ketten, jeder getrieben von seinem Wärter, die Mutter, die
ihr Kind festzuhalten sucht, und die Rauferei unter den
Siegern …«
Desgleichen zitiert Dumarsais als Beispiel für Hypoty-
pose diese Stelle aus Racines Phèdre , V, 6:
Cependant sur le dos de la plaine liquide
S’élève à gros bouillons une montagne humide;
L’onde s’approche, se brise, et vomit à nos yeux,
Parmi les flots d’écume, un monstre furieux;
Son front large est armé de cornes menaçantes
Tout son corps est couvert d’écailles jaunissantes;
Indomptable taureau, dragon impétueux,
Sa croupe se recourbe en replis tortueux …
Indem erhebt sich aus der flüss’gen Ebne
Mit großem Wallen hoch ein Wasserberg,
Die Woge naht sich, öffnet sich und speit
Vor unsern Augen, unter Fluten Schaum’s,
Ein wütend Untier aus. Furchtbare Hörner
Bewaffnen seine breite Stirne, ganz
Bedeckt mit gelben Schuppen ist sein Leib;
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Ein grimm’ger Stier, ein wilder Drache ist’s,
In Schlangenwindungen krümmt sich sein Rücken …4
Wenn wir uns die vier Beispiele von Quintilian näher
ansehen, stellen wir fest, daß im ersten nur eine
Körperhaltung genannt wird (durch die der Leser
sozusagen eingeladen wird, sich die Szene vorzustellen);
im zweiten wird eine Pose mit einiger Bosheit
beschrieben – die Feierlichkeit des roten Mantels wird in
die Nähe der Vulgarität jener Dirne ( muliercula )gerückt, so daß der Zuhörer einen schrillen Ton hört; im dritten ist
das, was die Beschreibung interessant macht, nicht nur die
größere Präzision und Länge, sondern auch die Wider-
wärtigkeit der beschriebenen Dinge (vergessen wir nicht,
daß in der antiken Mnemotechnik ein monströses oder
schreckliches Bild mehr Chancen hatte, im Gedächtnis
haften zu bleiben und folglich im rechten Moment erinnert
zu werden). Im vierten Fall liegt kein eigentliches Beispiel
vor, sondern es wird angedeutet, wie die breite und erregte
Beschreibung einer langen Handlungssequenz aussehen
könnte, und ich spreche von dem dramatischen Ablauf der
Handlungen hier ganz absichtlich wie von einer filmischen
Sequenz.
Im Falle des Zitats von Racine haben wir etwas noch
Komplexeres, nämlich die Beschreibung verschiedener
Phasen eines Naturereignisses, aber mit fortgesetzter
Zoomorphisierung jeder der einander folgenden Wellen.
Man kann sich nur schwer der Versuchung oder dem Reiz
entziehen, sie sich visuell vorzustellen. Es mag respektlos
erscheinen, hier an Walt Disneys Schneewittchen bei der
Flucht durch den Wald zu erinnern (wobei die Respekt-
4 Dt. von Friedrich Schiller (1804), jetzt Stuttgart, Reclam,
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