Die Bücher und das Paradies
getreuen Takt der Carioca?«), vgl. Eugenio
Montale, Gedichte , 1920 – 1954 , Hanser 1987, S. 248 f. (A. d. Ü.).
248
Erinnerung, die sie braucht, um sich zu realisieren, auch
schaffen.
Andererseits, wenn es wahr ist, daß jeder, der sich an
seinen ersten Kuß erinnert, einen Vers wie la bocca mi
baciò tutto tremante 13 gut nachvollziehen kann – würden wir dann behaupten, daß diejenigen, die zum ersten Mal
von einem ersten Kuß lasen, nicht ihrerseits so tun
könnten, als ob sie ihn erlebt hätten? Wollte man das
verneinen, könnte man weder den Fehltritt noch das
Zittern von Paolo und Francesca erklären, als sie ihrerseits
zu Opfern einer schönen Hypotypose wurden.
Wenn es sich so verhält, können wir unter dieser Rubrik
auch die Fälle aufführen, in denen die Hypotypose
verlangt, daß wir uns nicht-menschliche Erfahrungen
vorstellen. So den Fall der Fraktalisierung des Raumes im
Ameisengang , für den ich ein schönes Beispiel in
T. S. Eliots Love Song of J. Alfred Prufrock finde:
The yellow fog that rubs its back upon the window-panes,
The yellow smoke that rubs its muzzle on the window-panes,
Licked its tongue into the corners of the evening,
Lingered upon the pools that stand in drains,
Let fall upon its back the soot that falls from chimneys,
Slipped by the terrace, made a sudden leap,
And seeing that it was a soft October night,
Curled once about the house, and fell asleep.
Der gelbe Nebel, der seinen Rücken an den Scheiben reibt,
Der gelbe Rauch, der seine Schnauze an den Scheiben reibt,
Leckte mit seiner Zunge in die Ecken des Abends,
Verweilte auf den Pfützen in den Abflußrinnen,
Ließ den aus Kaminen fallenden Ruß auf seinen Rücken fallen,
Schlüpfte auf die Terrasse, tat einen plötzlichen Sprung,
13 »Er küßte mich am ganzen Leibe zitternd auf den Mund«
(Francesca da Rimini über Paolo Malatesta), Dante, Inferno 5, 136
(A. d. Ü.).
249
Und als er sah, daß es ein milder Oktoberabend war,
Kringelte er sich einmal ums Haus und schlief ein.
Während der menschliche Reisende sich zu schnell
voranbewegt, um wahrzunehmen, wie die Mauern und
Straßenecken in London beschaffen sind, wird der Leser
hier aufgefordert, sich vorzustellen, mit welcher Ge-
schwindigkeit der Nebel vorankriecht. Die Folge ist, daß
man beim Lesen sozusagen die Gangart verlangsamt, um
jedem Mauervorsprung und jeder Fensterkante zu folgen –
ganz so, wie es uns erginge, wenn wir aufgefordert wür-
den, uns vorzustellen, wie eine Ameise durch die Tiefen
und über die Höhen eines Raumfragments krabbelt, das
wir in einem Augenblick mit unserer Fußsohle bedecken.
Es ist nicht meine Absicht, in der knappen Zeit eines
Kongreßbeitrags die unerschöpfliche Typologie der
Hypotypose zu erschöpfen. Ich deute nur einige
Forschungsrichtungen an.
Man könnte die verschiedenen Techniken der Fokus-
sierung analysieren. Zum Beispiel wäre die schöne Ana-
lyse zu erneuern, die Joseph Frank in wahrhaft
vorsemiotischer Zeit von der Jahresversammlung der
Landwirte in Madame Bovary gemacht hat – wo die drei
Ebenen des Platzes, der Tribüne und des Rathaussaals
sozusagen simultan montiert werden, beziehungsweise in
einer Art Montage à la Griffith, um durch diese zeitliche
Engführung einen visuellen Effekt zu erzeugen.14 Man
müßte selbstverständlich auf die beiden Schlachten von
Waterloo zurückkommen, die in Stendhals Chartreuse , die aus der Froschperspektive gesehen wird (von einem
14 Joseph Frank, »Spatial Form in Modern Literature«, in Sewanee Review , 1945.
250
Fabrice, der mittendrin ist und sich in den Räumen, durch
die er zufällig läuft, verirrt, während ihm der globale
Raum des Zusammenstoßes entgeht), und die in Hugos
Misérables , die aus der Vogelperspektive von einem all-wissenden Autor gesehen wird, der auch noch diejenigen
Räume analysiert, die Napoleon nicht sieht. Ich habe an
anderer Stelle15 über die verschiedenen Blickwinkel
gesprochen, die zu Beginn von Manzonis Promessi Sposi
schrittweise den Raum jenes ramo del lago di Como
erschaffen – wobei das Spiel der Blickwinkel noch durch
eine besondere Syntax unterstützt wird. Es würde sich
auch lohnen, Schritt für Schritt den Anblick der drei
Bäume während der Spazierfahrt mit Madame de
Villeparisis in Teil 2 von A 1’ombre des jeunes filles en
fleurs zu verfolgen, um ein doppeltes Phänomen zu
erfassen: eine allmähliche Verschiebung des Blickwinkels
und die
Weitere Kostenlose Bücher