Die Bücher und das Paradies
wiederholte Unterbrechung der Raumbeschrei-
bung durch andere Reflexionen, die Zeit (zum Lesen) und
Raum (für die Schrift) erfordern, um so das Gefühl der
Fahrt zu verdeutlichen und die langsame Veränderung des
Blickwinkels zu rechtfertigen.
Man könnte noch lange fortfahren, aber ich denke, es
lohnt sich der Versuch, anstelle einer Konklusion zu resü-
mieren, was diese verschiedenen Techniken und folglich
diese verschiedenen Erscheinungsformen der Hypotypose
miteinander verbindet. Es wurde schon mehrmals
angedeutet und braucht nur noch zusammengefaßt zu
werden. Die Hypotypose beruht nicht auf einer seman-
tischen Regel, wie es bei den Tropen und Redefiguren der
Fall ist, bei denen man, wenn man die Regel nicht kennt,
15 Im Wald der Fiktionen , Hanser 1994, S. 95 – 99.
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nicht versteht, was gesagt wird. Wenn per Metonymie der
Behälter anstelle des Inhalts genannt wird (»trinken wir
ein Gläschen«), glaubt der Adressat, der die Regel nicht
kennt, er werde aufgefordert, einen festen Gegenstand zu
schlürfen. Wenn per Analogie oder Metapher gesagt wird,
ein junges Mädchen sei eine Hindin, wird der
Ahnungslose, der die Regel nicht kennt, verwundert
bemerken, daß die Betreffende weder Hufe noch Hörner
hat. Aber gewöhnlich kommt es nicht zu solchen
Mißverständnissen, außer in komischen oder surrealen
Erzählungen.
Dagegen kann der Adressat in allen hier aufgeführten
Fällen von Hypotypose sehr gut vermeiden, an der
Visualisierung mitzuarbeiten. Er kann sich darauf be-
schränken zur Kenntnis zu nehmen, daß ihm gesagt wird,
eine Stadt werde geplündert, eine Schublade sei voller
Krimskrams, ein gewisser Bruder Jean sei ein Prahlhans.
Wir haben sogar unterstellt, daß er sich bei Robbe-Grillet
weigern kann, etwas Genaues zu sehen, ja, sich vielleicht
sogar weigern soll , weil der Autor wahrscheinlich genau diese Weigerung, einen Exzeß an Visualisierung mit-zumachen, hervortreiben wollte.
Mithin wäre die Hypotypose (unter anderem, als
Denkfigur, die ähnlich der Ironie und anderen verwandten
Figuren komplexe Textstrategien erfordert und sich
niemals durch ein rasches Zitat oder eine Formel exempli-
fizieren läßt) ein semantischpragmatisches Phänomen und
somit ein Musterbeispiel für interpretierende Mitarbeit.
Nicht so sehr Darstellung als vielmehr Technik zur
Stimulierung des Lesers, sich eine visuelle Darstellung zu
konstruieren, sich ein Bild zu machen.
Und in der Tat, warum sollten wir annehmen, daß
Wörter sichtbar machen , wo sie doch gerade erfunden
worden sind, um von dem zu sprechen, was wir nicht vor 252
Augen haben und folglich nicht mit dem Finger zeigen
können? Das Höchste, was Wörter tun können (da sie
emotionale Wirkungen erzeugen), ist, unsere Vorstel-
lungskraft anzuregen.
Die Hypotypose benutzt Wörter, um den Adressaten zu
ermuntern, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren.
Beweis dafür sind die Dramen jener Bemühung, die das
Gegenteil der Ekphrase (der Beschreibung eines Bildes in
Worten) ist, nämlich der bildlichen »Übersetzung« oder
Materialisierung dessen, was ein verbaler Text an Vor-
stellungen anregt. Kommen wir noch einmal auf die
Offenbarung Johannis zurück. Das Drama aller
mozarabischen Miniaturenmaler (der Illustratoren jener
prächtigen frühmittelalterlichen Kommentare zur Apoka-
lypse, die unter dem Namen Beatus bekannt sind) war die Darstellung jener vier Lebewesen, die sich »in der Mitte
am Thron und um den Thron« befinden (nach der Vulgata,
der einzigen Version, welche die Miniaturenmaler
kannten, super thronum et circa thronum ). Wie können
diese vier Kreaturen gleichzeitig über und um etwas sein?
Sieht man die Lösungen der verschiedenen Beati durch,
so erkennt man, daß die Aufgabe unmöglich war und
Darstellungen erbracht hat, die den Text nicht in
befriedigender Weise »übersetzen«. Und dies, weil die
Miniaturenmaler in der griechischchristlichen Tradition
aufgewachsen waren und daher dachten, der Autor dieses
Textes habe etwas wie eine Statue oder ein Bild
»gesehen«. Aber der kulturelle Hintergrund des Johannes,
wie auch der des Propheten Ezechiel, von dessen Vision er
sich inspirieren ließ, war jüdisch, und was er sah, war
überdies die Vision eines Sehers. Infolgedessen erzählte
Johannes keine Bilder (oder Statuen), sondern allenfalls
Träume oder, wenn wir so wollen, Filme (die ja Träume
mit offenen Augen sind oder auf den weltlichen
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