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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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aktiviert nicht bloß präexistente Erkenntnismuster,
    sondern auch präexistente körperliche Erfahrungen. Ein
    schlagendes Beispiel findet sich in dem frühen Science-
    fiction-Roman Flatland von Edwin Abbott (1884):
    Place a penny in the middle of one of your tables in Space; and leaning over it, look down upon it. It will appear a circle.
    But now, drawing back to the edge of the table, gradually lower your eye (thus bringing yourself more and more into the condition of the inhabitants of Flatland), and you will find the penny
    becoming more and more oval to your view; and at last when you have placed your eye exactly on the edge of the table (so that you are, as it were, actually a Flatland citizen) the penny will then have ceased to appear oval at all, and will have become, so far as you can see, a straight line.

    10 Dt. von Gottlob Regis (1832), zuletzt Hanser 1964, S. 77 f.
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    Lege, Leser, eine Münze mitten auf einen eurer Tische im Raum, beuge dich darüber und sieh hinab: sie wird als Kreis erscheinen.
    Nun aber zieh dich zum Rand des Tisches zurück und gehe mit
    deinem Gesicht immer tiefer (womit du dich mehr und mehr den
    Erkenntnisumständen der Bewohner von Flächenland näherst), und du wirst sehen, daß die Münze mehr und mehr oval erscheint. Und schließlich, wenn du dein Auge genau auf die Höhe der Tischkante gebracht hast (so daß du sozusagen zum Flächenländer geworden
    bist), wird die Münze nicht mehr oval erscheinen und, soweit du es erkennen kannst, eine Gerade geworden sein.11
    Zu dieser Technik gehört auch die Evokation von
    sogenannten interozeptiven und propriozeptiven Erfah-
    rungen des Adressaten. Es handelt sich mit anderen Wor-
    ten darum, den Adressaten auf Erfahrungen zu verweisen,
    in denen er die Mühsal der Fortbewegung durch einen
    Raum erlitten hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Verse von Blaise Cendrars aus seiner Prose du
    transsibérien zitieren (bei der es sich übrigens um einen Text handelt, der, da er von einer Reise berichten muß,
    und zwar von einer sehr langen Reise, viele der hier
    definierten Techniken benutzt, von der Aufzählung bis zur
    minutiösen Beschreibung). An einem bestimmten Punkt
    erinnert sich Cendrars:
    Toutes les femmes que j’ai rencontrées se dressent aux horizons Avec les gestes piteux et les regards tristes des sémaphores sous la pluie …

    Alle Frauen, denen ich begegnet bin, erheben sich am Horizont
    Mit den erbarmungswürdigen Gesten und traurigen Blicken von
    Signalen im Regen …
    Wer je die Erfahrung von Zügen gemacht hat, die
    langsam durch neblige Nächte rollen, wird sich an die

    11 Dt. von Joachim Kalka, Flächenland , Stuttgart, Klett, 1982, S. 14.
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    gespenstischen Formen erinnern, die ebenso langsam aus
    dem Nieselregen auftauchen, fast unkörperlich, während
    man aus einem Fenster auf das dunkle Land hinausstarrt
    und dem keuchenden Rhythmus des Zuges lauscht (dem
    Takt der Carioca in Montales Addii, fischi nel buio 12).
    Die interessante Frage ist eher, wieviel jemand mit
    diesen Versen anfangen kann, der in einer Epoche
    aufgewachsen ist, die nur noch schnelle Züge mit herme-
    tisch geschlossenen Fenstern kennt (unter denen es nicht
    einmal mehr das Schildchen gibt, das in drei Sprachen
    verbietet, sich hinauszulehnen). Wie reagiert man auf eine
    Hypotypose, die etwas in Erinnerung ruft, was man nie
    gesehen hat? Ich würde sagen, indem man so tut , als ob man es gesehen hätte, und zwar genau auf Basis der
    Elemente, die einem der hypotypotische Ausdruck liefert.
    Die beiden Verse von Cendrars erscheinen in einem
    Kontext, in dem die Rede von einem Zug ist, der tagelang
    durch endlose Steppen fährt, die angesprochenen Signale
    erinnern in gewisser Weise an Augen, die im Dunkeln
    schimmern, und die Erwähnung der Horizonte bewirkt,
    daß wir sie uns verloren in einer Ferne vorstellen, die
    durch die Bewegung des Zuges nur um so größer wird,
    Moment für Moment … Im übrigen hat auch, wer nur die
    modernen Schnellzüge kennt, schon einmal draußen
    Lichter gesehen, die in der Nacht verschwinden. Kurzum,
    die Erfahrung, an die man sich erinnern soll, zeichnet sich
    versuchsweise ab: Die Hypotypose kann sich die

    12 Anspielung auf das Gedicht »Abschiede, Pfiffe im Dunkeln …«, das mit den Versen endet: Presti anche tu alla fioca / litania del tuo rapido quest’orrida / e fedele cadenza di carioca? (wörtl.:
    »Leihst auch du der müden / Litanei deines Schnellzugs diesen
    schaurigen / und

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