Die Bücher und das Paradies
Ebenen
gleichzeitig spricht: zu den anderen Architekten und zu
einer interessierten Minderheit, die sich mit spezifisch
architektonischen Signifikanten auskennt, aber auch zu
einem größeren Publikum oder zu den Bewohnern des
Ortes, die sich für andere Dinge interessieren, wie den
Komfort der Gebäude, die Traditionen und die Lebens-
weisen.3
Das postmoderne Gebäude oder Kunstwerk wendet sich
gleichzeitig an ein Elitepublikum, indem es »hohe« Kodes
benutzt, und an ein Massenpublikum, indem es populäre
Kodes benutzt.4
Diese Idee kann auf vielerlei Weise verstanden werden.
In der Architektur sind uns allen Beispiele der
sogenannten Postmoderne gegenwärtig, die in Zitaten der
Renaissance oder des Barock oder anderer Epochen
schwelgen und damit »hohe« Kulturmodelle zu einem
3 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture , London, Academy, 1977, S. 6 – 8.
4 Charles Jencks, What is Post-Modernism? , London, Art and Design, 1986, S. 14 f.; vgl. auch Charles Jencks (Hg.), The PostModern Reader , London, Academy Editions, und New York, St Martin’s Press, 1992.
257
Ensemble verschmelzen, das jedoch auch für den
einfachen Nutzer angenehm und phantasievoll ist – oft zu
Lasten der Funktionalität und mit neuer Lust an Ornament
und Bühnenbild. Zahllos sind zum Beispiel die Zitate und
Lösungen einer kühnen Avantgarde in dem neuen
Guggenheim-Museum von Bilbao, das jedoch auch
Besucher anzieht, die keine Ahnung von Architektur-
geschichte haben, und das ganz allgemein (auch statistisch
gesprochen) »gefällt«. Im übrigen findet sich dieses
Element auch in den Songs der Beatles, die nicht zufällig
unter anderem in der Manier von Purcell vorgetragen
worden sind (auf einer unvergeßlichen Platte von Cathy
Berberian), eben weil diese eingängigen und angenehmen
Melodien »hochkulturelle« Stileme und Echos aus
früheren Zeiten benutzen, die das geschulte Ohr hören
kann.
Beispiele für Doppelkodierung finden sich heute in
vielen Werbespots, die wie experimentelle Filme gebaut
sind, denen früher nur verschwindend kleine Cinephilen-
Grüppchen applaudiert hätten, die jedoch aus wechselnden
»populären« Gründen – Anspielung auf erotische Situa-
tionen, Reiz eines bekannten Gesichts, Schnittrhythmus,
unterlegte Musik – alle Arten von Zuschauern anziehen.
Viele literarische Werke sind wegen eines wieder-
entdeckten Plots mit spannender Handlung von einem
breiten Publikum akzeptiert worden, das eigentlich hätte
abgeschreckt sein müssen von ihren auch verwendeten
avantgardistischen Stilmitteln wie dem inneren Monolog,
dem metanarrativen Spiel, der Vielzahl von »Stimmen«,
die sich in den Gang der Erzählung einmischen, dem
Aufbrechen der zeitlichen Abfolge, dem raschen Wechsel
der Stilregister, dem Vermischen des Erzählens in der
dritten und in der ersten Person und der freien indirekten
oder erlebten Rede.
258
Dies alles würde indes nur heißen, daß es eben ein
Charakteristikum der sogenannten Postmoderne ist, Erzäh-
lungen vorzulegen, die ein breites Publikum anziehen
können, obwohl sie mit gelehrten Anspielungen und
»anspruchsvollen« Stilmitteln operieren beziehungsweise
(in den glücklichsten Fällen) beide Komponenten in einer
nichttraditionellen Weise verschmelzen. Zweifellos ist
dies ein interessantes Phänomen und hat nicht umsonst
verblüffende Erklärungsversuche bei den Theoretikern des
sogenannten »Qualitätsbestsellers« hervorgerufen, das
heißt jenes Buchtyps, der gefällt, obwohl er einen
gewissen künstlerischen Anspruch hat und den Leser mit
Problemen oder Verfahrensweisen konfrontiert, die früher
allein das Kennzeichen der Elitekunst waren.
Es ist nie klar gewesen, ob unter Qualitätsbestseller ein
auf Popularität angelegter Roman zu verstehen ist, der
einige anspruchsvolle Strategien benutzt, oder ein an-
spruchsvoller Roman, der aus irgendwelchen mysteriösen
Gründen populär geworden ist. Im ersten Fall müßte das
Phänomen durch eine Strukturanalyse des Werks erklärt
werden, die beispielsweise zu dem Ergebnis käme, daß
seine Attraktivität für den Massengeschmack auf der
Präsentation einer spannenden Geschichte beruht, wo-
möglich einer Kriminalgeschichte, die den Leser mitreißt
und ihm dadurch ermöglicht, die stilistischen oder
strukturellen Hürden zu überwinden. Im zweiten Fall
beträfe das Phänomen die Kompetenz einer Rezep-
tionsästhetik und mehr noch eine
Weitere Kostenlose Bücher